Berichte von Deportierten aus Frankreich und dem annektierten Elsass: „Témoignages strasbourgeois“ in deutscher Übersetzung
Nach Kriegsbeginn im September 1939, als damals die französische Regierung die Bevölkerung in der grenznahen Region Elsass in südlich gelegene Départements evakuierte, um sie vor Kriegsschäden zu schützen, ist die „Université de Strasbourg“ nach Clermont-Ferrand in der Auvergne verlegt worden. Von Beginn an war sie ein Zentrum des Widerstands und geriet zunehmend ins Visier der NS-Besatzung, nachdem diese ab November 1942 auch die „freie Zone“ Frankreichs in Beschlag nahm. So wurden 1943 rund 1200 Lehrende und Studierende im Zuge mehrerer Razzien in der „Université de Clermont-Ferrand“ festgenommen und 130 in Konzentrationslager deportiert, etwa nach Buchenwald und Mittelbau-Dora. Einige sind auch sofort in der Region getötet worden, darunter der Historiker Marc Bloch (1886-1944), der als Offizier 1940 die Niederlage Frankreichs miterleben musste und nach dem Waffenstillstand das renommierte Buch „L’étrange défaite“ („Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940 – Der Historiker als Zeuge“) schrieb. Er war einer von „dreißig am 16. Juni 1944 feige von den Deutschen ermordeten Patrioten“, die zuvor schwere Folter erlitten.
An 119 Professoren und Studenten, „zwischen 1939 und 1945 vom Feind getötet, deportiert, erschossen oder ermordet“, erinnert eine Tafel im Palais Universitaire in Straßburg.
„Témoignages strasbourgeois“ – eindrückliche Berichte
Bereits 1947 veröffentlichte die Université de Strasbourg die „Témoignages strasbourgeois“, eine Sammlung von Zeugenberichten, in denen Überlebende ihre Verschleppung schildern; 40 dieser Texte, von 33 Autorinnen und Autoren zu ihren Zwangs-Aufenthalten in den KZs Buchenwald und Mittelbau-Dora, liegen nun in deutscher Übersetzung vor. Sie können stellvertretend für die weit über hundert Deportierten der Université de Strasbourg stehen, von denen kaum die Hälfte überlebte. In Frankreich sind die „Témoignages“ mehrfach aufgelegt und breit rezipiert worden; in Deutschland waren sie lediglich Fachleuten bekannt.
In der nun vorliegenden Edition werden zunächst die Verhaftungen in Frankreich thematisiert; danach folgen zwei Rapporte über die Gefangenschaft, u.a. im Polizeilager Compiègne, sodann eine Beschreibung der Transporte nach Deutschland. Schwerpunkt der „Témoignages“ sind Schilderungen über die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau, Natzweiler-Struthof, Mauthausen, Flossenbürg, Neuengamme, Stutthof, Ravensbrück und Auschwitz. Im Kapitel zu Ravensbrück erteilt ein Bericht von Elisabeth Will Aufschlüsse über die Frauenaußenlager Leipzig-Schönefeld und Schlieben. Drei Beiträge befassen sich mit den Räumungstransporten und brutalen Todesmärschen kurz vor der Befreiung. Den Abschluss des Bandes bildet ein Reihe von zentralen Dokumenten sowie die Namen derer, die nicht überlebt haben.
Handelt es sich auch um persönliche Perspektiven auf die Situation und Geschichte der o.g. KZs, so vermitteln sie untrüglich einen komplexen Eindruck von den Lagern und die Situation französischer Häftlinge. „Durch die gezielte Unterversorgung zwang die SS die Häftlinge zu einem Kampf ums Dasein, in der jeder und jede versuchte, für sich und die eigene Bezugsgruppe das Überleben zu sichern. Das beförderte Rivalitäten und Vorurteile gegenüber anderen Häftlingsgruppen. Mit der stigmatisierenden Kennzeichnung und Hierarchisierung der einzelnen Häftlingsgruppen und Nationalitäten schürte die SS diese Vorurteile zwischen den Gruppen zusätzlich. Auch das System der Funktionshäftlinge, also die Vergabe von Funktionsposten an einzelne Häftlinge, mit denen Privilegien wie zusätzliche Nahrung oder ein besserer Schlafplatz einhergingen, trug zur Spaltung der ‚Häftlingsgesellschaft‘ bei“, heißt es im Vorwort der Herausgeber. Zwei weitere Texte, die den Band einleiten, dienen der historischen Einordnung der Straßburger Zeugenschaften; Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, stellt diese in den Zusammenhang mit der Situation französischer Häftlinge in NS-Deutschland insgesamt. Im KZ Buchenwald waren etwa 280.00 Menschen aus 50 Ländern inhaftiert, die Todesopfer werden auf 56.000 geschätzt, darunter 15.000 Sowjetbürger:innen, 7.000 Polen:innen, 6.000 Ungar:innen und 3.000 Französinnen und Franzosen.
Von der Université de Strasbourg zur „NS-Kampfuniversität“
Ein Beitrag des Wissenschaftshistorikers Henning Schmidgen befasst sich detailliert mit der wechselvollen Geschichte der Universität Straßburg; er geht auch auf einige Wissenschaftler ein, unter ihnen der Romanist Jean Baillou, der Physiker Georges Bruhat, der Sinologe Henri Maspero und der Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945); die beiden letzten waren Lehrstuhlinhaber am Collège de France in Paris. Halbwachs hatte lange Zeit auch der Université de Strasbourg angehört, in Buchenwald wurde er zugrunde gerichtet.
Für die Université de Strasbourg stellte die NS-Besatzung und de-facto Annexion von Elsass-Moselle ab Juni 1940 einen schweren Eingriff dar und brachte Ausgrenzung mit sich. Denn von 1941 bis 1944 zog die (deutsche) „Reichsuniversität Straßburg“ mit 100 Professoren in die Räume der Institution; die „NS-Kampfuniversität“ sollte nun „die westlichen Nachbarn für die neue europäische Ordnung … unter deutscher Führung gewinnen“ (W. Best). Viele junge, der NSDAP oder SS angehörende deutsche Lehrkräfte, bewarben sich hier um eine Anstellung. Damit begannen u.a. medizinische Verbrechen, einige Professoren benutzten Insassen aus den Lagern Schirmeck-Vorbruck und Natzweiler-Struthof für Menschenversuche. Kriminellen Experimenten dienten auch 86 Häftlinge, die – 1943 aus Auschwitz in das KZ Natzweiler transportiert – für eine jüdische Skelettsammlung in der Gaskammer ermordet wurden.
Der Philosoph und Mediziner Georges Canguilhem, nach dem Krieg ein wichtiger Lehrer einer Generation bedeutender Geistes- und Sozialwissenschaftler, darunter Foucault, Bourdieu und Badiou, gehörte seit 1941 der Université de Strasbourg an und leistete Widerstand, etwa mit der Zeitschrift „Liberté“; in dieser wird sofort 1945 die Deportation der Straßburger Universitätsangehörigen als einer der größten Schäden bezeichnet, „den das Wüten der Nazis unserem Land zugefügt hat“. Nach Rückkehr der Universität an ihren früheren Ort setzten sich viele der Überlebenden für eine wissenschaftliche Aufarbeitung ein, befassten sich soziologisch und psychologisch mit den Folgen der Lagerhaft und dem KZ als „Einschließungsmilieu“. Vorbildlich dokumentierte zudem die geisteswissenschaftliche Fakultät die Zeit zwischen 1939 und 1945; der damalige Dekan, Gabriel Maugain, legte 1947 eine Chronik und einen Rechenschaftsbericht vor, zudem Nachrufe und Porträts der Ermordeten. Parallel dazu edierte der Leiter der „Association des Publications de la Faculté des Lettres de Strasbourg“ die „Témoignages strasbourgeois“.
All dies lässt sich dem Beitrag des Historikers Henning Schmidgen entnehmen, der zudem einen Blick auf die Vorgeschichte der Université de Strasbourg bis ins 16. Jahrhundert wirft und die Konsequenzen der mehrfach wechselnden nationalen Zugehörigkeit des Elsass seit 1871 thematisiert. Die neu gegründete Kaiser-Wilhelm-Universität wurde nach Ende des Ersten Weltkriegs wieder eine französische Institution. Aber die Kaiser-Wilhelm-Getreuen versuchten sodann in Frankfurt am Main mit der Gründung des „Elsass-Lothringen-Instituts“ weiter zu existieren – in der Folgezeit bekannt durch seine zweifelhafte „Westforschung“. An der Université de Strasbourg hatte sich indes zwischen den beiden Kriegen ein anspruchsvolles interdisziplinäres Geistesleben entwickelt, für das die Namen Marc Bloch, Henri Febvre, Maurice Halbwachs, Emmanuel Lévinas, Jean Cavaillès und Georges Canguilhem stehen; in diesen Kreisen hat auch eine frühe Rezeption der Phänomenologie Husserls stattgefunden. Doch im Zweiten Weltkrieg wird die Institution völkisch-national ausgerichtet, was brachiale Gräueltaten im Zeichen der NS „Wissenschaft“ ermöglicht. Physische Gewalt ging einher mit Beschädigung der Sprache, die sich erst erholen kann, wenn die Zeugen gehört und für sie gebürgt wurde. Die Lektüre dieses ergreifenden Buches trägt dazu bei.
• Témoignages strasbourgeois. Berichte französischer Überlebender der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora. Anett Dremel, Michael Löffelsender, Jens-Christian Wagner (Hg.). Berichte und Dokumente, Bd.1. Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Hg.). Aus dem Französischen von Karola Bartsch. Wallstein Verlag 2024
Bildquellen
- Die Universität in Straßburg: © Kent Wang/gemeinfrei