Kunst

Fenster zur Seele: Das Museum Frieder Burda in Baden-Baden zeigt mit „Angry Girls“ eine Retrospektive des japanischen Künstlers Yoshitomo Nara

Kleine Mädchen sind niedlich. Oder? Die „Angry Girls“ des japanischen Künstlers Yoshitomo Nara erfüllen mit den übergroßen rundlichen Köpfen und den riesigen Augen alle Merkmale des Kindchen-Schemas. Nur der Ausdruck ihrer Augen wirkt verstörend. Finster, böse, wütend, manchmal weisen außerdem kleine spitze Zähnchen darauf hin, dass diese Kinderlein nicht harmlos sind. Bis zum 27. April 2025 kann man im Museum Frieder Burda in Baden-Baden in einer großen Retrospektive Yoshitomo Naras Werk erkunden, von den frühen 80ern bis zu neuesten Arbeiten.
Mit Mangas, den japanischen Kult-Comics, haben Naras Mädchen nichts zu tun, darauf legt der Künstler Wert. Die Augen, die er malt, erzählen keine Handlung, sie sind Fenster zur Seele. Vor allem zu seiner eigenen. Der 1957 im ländlichen Norden Japans geborene Künstler hatte eine einsame Kindheit. Seine Eltern arbeiteten beide, die beiden Brüder waren viel älter als er. Zu Gleichaltrigen hatte Yoshitomo kaum Kontakt. So fing er früh an zu zeichnen und seine Fantasie zu pflegen. Er erfand Abenteuer, die seine Katze erlebte, und hörte über ein selbst gebautes Radio den US-Sender, der eigentlich Musik für die GIs in Vietnam spielte. Nara verstand damals die Texte nicht, aber die Emotionen in der Musik, die wiederum in seine Zeichnungen einflossen.
Nara hat seine über 100 Arbeiten selbst im Museum Frieder Burda aufgebaut, gestellt und gehängt. Im Erdgeschoss hat er das Haus seiner Kindheit aufgebaut, in einer kindgerechten, für Erwachsene gerade noch begehbaren Größe. Man sieht durch die Fenster die Welt des kleinen Yoshitomo, da liegen Stifte und überall viele, viele Zeichnungen, es gibt Kitschfiguren wie Kinder sie gern sammeln. Und ein kleines Gemälde auf dem steht „4everalone“. Auch die von ihm gemalten Mädchen sind meist allein in ihrem großformatigen Bild und sehen den Betrachter aus ihren riesigen Augen an. Seit der Katastrophe von Fukushima 2011, als ein Tsunami den Atomreaktor zerstörte und zigtausend Menschen starben, stehen seine kindlichen Heldinnen oft im Wasser. „Shallow Puddle“ heißt „Flache Pfütze“, und doch ragt das Kindergesicht gerade noch ab Nase aufwärts heraus. Viele der nach 2011 entstandenen Gemälde zeigen keine frechen oder wütenden Mädchen mehr, sondern still in sich gekehrte, manchmal mit geschlossenen Augen. Und wenn sie offen sind, sieht man Tränen. Für Hoffnung steht das Mädchen, das mit einer Blume in den Händen in einem pinkfarbenen Fluss steht.

Yoshitomo Nara: „Untitled“, 2007. Collection of the artist © Yoshitomo Nara, courtesy Yoshitomo Nara Foundation

Mädchengesichter mit grünen Haaren blicken von hoch oben an den Wänden auf die Besucher herab. Unten, in Augenhöhe, drängen sich Zeichnungen aneinander, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Yoshitomo Nara empfindet Zeichnen als Freiheit, und er zeichnet auf alles, was gerade da ist, ob Papier oder Pappkarton. Statt Leinwand malt er auch gern auf Jute oder Baumwolle oder auch direkt auf den hölzernen Untergrund. Inspiriert von europäischer Kunst des Mittelalters und der Renaissance finden sich einige seiner Angry Girls auf runden, leicht vertieften, wie überdimensionale Suppenteller wirkenden Bildformaten. Leidenschaftlich lässt der Künstler seine Heldinnen gegen Krieg und Bomben kämpfen. Unter dem Bild des Mädchens in einem leuchtend roten Kleid mit weißem Kragen steht „Missing in Action“, „Im Kampf gefallen“. Bomben und Raketen töten auch Kinder.
Stillen Frieden strahlen die meditierend wirkenden Mädchengesichter aus, die Nara in Keramik gearbeitet hat. Sie erinnern ein bisschen an meditative Buddha-Statuen. Ob nachdenklich, traurig oder kämpferisch, zu seinen einzigartigen, berührenden Bildmotiven fand Yoshitomo Nara während seiner Zeit an der Kunstakademie in Düsseldorf Ende der 1980er Jahre bei A. R. Penck, und so kann man hier und da auch deutsche Worte in den Kunstwerken entdecken. Neben Krieg und Atomkraft setzt sich Nara auch mit der Geschichte auseinander und lässt eine seiner kleinen Heldinnen triumphierend auf dem Kopf des von ihr mit einem Pfeil erlegten Adolf Hitler stehen. Die in Zusammenarbeit mit dem Guggenheim-Museum in Bilbao entstandene Retrospektive löst bei den Besuchern ebenso viele Emotionen aus wie in den ausdrucksvollen Blicken von Naras gemalten Mädchen zu entdecken sind.

Angry Girls. Yoshitomo Nara. Museum Frieder Burda, Lichtentaler Allee 8b, Baden-Baden, Di-So 10-18 Uhr. Bis 27.04.25

Bildquellen

  • Yoshitomo Nara: „Untitled“, 2007. Collection of the artist: © Yoshitomo Nara, courtesy Yoshitomo Nara Foundation
  • Yoshitomo Nara: „Miss Forest“, 2010. Leeum Museum of Art, Seoul © Yoshitomo Nara, courtesy Yoshitomo Nara Foundation;: Foto: Nikolay Kazakov