Was macht die DNA einer Stadt aus? Ihre Bewohner*innen, ihre Routinen, ihre Eigenheiten, kurz gesagt: ihr Alltag

„Alltag und Stadt sind nicht einfach da. Es sind die Menschen, die in ihrem Alltag ihre Stadt machen.“ Das forschungsorientierte Studienprojekt „Alltag findet Stadt“ des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Uni Freiburg wirft einen Blick hinter die Kulissen des Offensichtlichen und fragt danach, wie unser Alltag die Stadt definiert – und andersherum.

Arbeitsbegriff „Geschenk“

Am Anfang stand der Gedanke, etwas zurückzugeben. Etwas zurücktragen in die Stadt, einen Dialog zu eröffnen, Forschung sichtbar zu machen, so Dr. Sarah May, Leiterin des Projekts. Zur Erinnerung: Dieses Jahr ist Stadtjubiläum, auch wenn wir momentan nicht viel davon merken. Trotzdem Anlass genug, den forschenden Blick einmal auf sich selbst zu richten, was in diesem Fall bedeutet, auf die rund 230.000 Freiburger*innen und darauf, wie sie tagtäglich mit ihrem Leben, Wirken und Handeln die Stadt prägen – und wie die Stadt auf sie zurückwirkt. Dazu brachen May und acht Studierende des Master Kulturanthropologie europäischer Gesellschaften zwischen Oktober 2019 und März 2020 auf zu detektivischen Streifzügen durch den Alltag Freiburgs. Dabei erforschten sie auf vielfältige Weise alltägliche Praktiken, Räume und Dinge, aus deren Zusammenspiel die spezifischen Eigenlogiken erwachsen, die Freiburg zu dem machen, wie wir es kennen. Oder kennen zu glauben.

Die Universitätsbibliothek Freiburg
Foto: Finn-Louis Hagen

Vom Besonderen zum Allgemeinen

In Freiburg trägt man Funktionskleidung, spricht Dialekt und wählt(e) Grün – soweit die gängigen Klischees. Eigen- und Fremdwahrnehmung sind in dieser Beziehung zwar nicht immer deckungsgleich und oft handelt es sich um Reduzierungen und Zuschreibungen, trotzdem äußern sie sich immer wieder in alltäglichen Handlungen, Orten und Dingen. Viele dieser verschwinden zumeist spurlos unter dem Radar unserer alltäglichen Aufmerksamkeitsspanne, was einen kritischen Blick umso dringlicher macht. Denn natürlich treffen die Klischees einer Stadt nie auf alle ihre Bewohner*innen zu und darüber hinaus sind sie dem gleichen Wandel unterworfen wie die Stadt selbst. Beispielsweise standen 1995 bei Tocotronic noch Backgammon-Spieler [sic] sinnbildlich für Freiburg, wer oder was wäre das wohl heute? Spike-Ball-Spieler*innen? Näh-Cafés?
Nicht dieser, aber ähnlichen Fragen geht „Alltag findet Stadt“ in 17 facettenreichen Text-Bild-Analysen nach, die sehr guten Fotos steuerte Finn-Louis Hagen bei. Die Kapitel, betitelt mit einem thematisch entsprechenden Verb, enthalten verdichtete Beobachtungen, Interviews, Analysen und Recherchen mit einem mal weiter, mal enger gefassten inhaltlichen und analytischen Schwerpunkt. So finden sich neben prominenten Identitätsmarkern wie Fahrradfahren (radeln) oder dem Bächlesystem (fließen), eine Reihe von Prozessen und Routinen, die so unmittelbar in unseren Alltag eingebunden sind, dass ihre Existenz kaum einen Blick wert scheint. Wie etwa in „zusammenleben“, das ein generationsübergreifendes Wohnprojekt in den Vordergrund stellt oder „grenzgehen“, das den Alltag von Berufspendler*innen beleuchtet – beide zeigen auf, wie sich im Alltag einzelner Bewohner*innen übergeordnete (Stadt-) Strukturen widerspiegeln.
Und da wird es ja gerade spannend, wenn das Vertraute und Eigene, das oft keiner Überprüfung notwendig erscheint, einer eben solchen unterzogen wird. Wie etwa im Kapitel „fließen“ von Marlene Diemb, das die historische Entwicklung des – nicht immer ikonisch gewesenen – Wasserrinnensystems kunstvoll mit subjektiven Eindrücken und den (stadt-) identitätsstiftenden Potenzialen der Bächle verbindet.
Spezieller wird es dann beispielsweise im Kapitel „können“, in dem es um die unterschiedlichen Verständnisse rund um Tradition, Innovation und Handwerkskunst von Holzinstrumentenbauer*innen in Freiburg geht; oder in „stricken“, das den Alltag eines Strickcafés und das soziale Gefüge darum unter die Lupe nimmt; oder „kritzeln“, indem die – zumeist mit Edding geführten Diskurse – auf den Wänden von Toilettenkabinen in der UB und im Café Atlantik nachgezeichnet und gedeutet werden. Oder, oder, oder.

Vom Pfeilblatt bis zur Forellenbegonie

Nicht nur Prozesse und Routinen, sondern vor allem auch Beziehungen zu Dingen prägen unseren Alltag, seien es kostbare oder hinfällige. Unmerklich vermenschlichen wir Objekte, schreiben ihnen unterschiedlichste Eigenschaften und Gefühle zu – positive wie negative.
Dieses Handeln wirkt beständig auf uns zurück. Gerade die Beziehung von Menschen zu ihren Zimmerpflanzen, mit denen sich Julia Voswinckel in ihrem Kapitel „kultivieren“ beschäftigt, verdeutlicht dies: Pflanzenliebhaber*innen verfallen im Gespräch über ihre Zöglinge oft in einen liebevollen Tonfall, beschreiben ein Gefühl der Entspannung, des Bei-sich-seins bei deren Pflege, sie bauen emotionale Beziehungen zu ihren Pflanzen auf und das nicht selten über lange Zeiträume hinweg.
Eben diese alltäglichen Beziehungen demonstrieren, wie sich Objekte von ihrer reinen Objekthaftigkeit lösen können, in ein semiotisches System eingeschrieben werden, damit Zeichen vermitteln und (subjektive) Bedeutungen erlangen. Zimmerpflanzen fristen ihr Dasein nicht als bloße Dekorationsobjekte, sondern spiegeln individuelle Vorlieben und Fähigkeiten ihrer Besitzer*innen wider, sind Ausdruck von deren Persönlichkeit und wirken auf sie zurück.

Zeig mir deinen Müll und ich sage dir, wie du lebst

Ein gegenteiliges Beispiel liefert „entsorgen“ von Tobias Becker, das sich einem eher unpopulären Hintergrundprozess direkt aus dem Maschinenraum der Stadt widmet, der – wie der Titel bereits verrät – Abfallentsorgung. Die beginnt im Industriegebiet Freiburg-Nord. Von hier aus, dem Betriebshof der ASF (Abfallwirtschaft und Stadtreinigung Freiburg) in der Hermann-Mitsch-Straße, starten die Entsorgungsteams mit ihren weiß-grünen Lastern tagtäglich auf die zahlreichen Routen durch das Freiburger Stadtgebiet und die Peripherie. Damit dieser Ablauf reibungslos funktioniert, muss eine Vielzahl von Faktoren aufeinander abgestimmt werden: Logistik, Timing, Infrastruktur, Erfahrung, Routine. Ist all dies gewährleistet, vollzieht sich dieser sehr alltägliche Prozess dann nahezu unsichtbar (zumindest für Spätaufsteher*innen wie den Autor dieses Artikels) und wird, wie so oft, erst sichtbar, wenn er unterbrochen wird. Man schaue beispielsweise einmal nach Neapel, das in den letzten Jahren regelmäßig im Müll versank, da die Entsorgung durch bürokratische Ineffizienz und Korruption immer wieder zum Erliegen kam – so wird Müll unversehens sehr politisch. Denn Abfall und dessen Entsorgung tangieren als alltägliche Mensch-Ding-Beziehung unmittelbare Fragen unseres Zusammenlebens, darüber sprechen tun wir jedoch selten. Wo hört das Private auf, wo beginnt das Öffentliche? Müll bewegt sich in genau dieser Übergangszone. Ab wann gilt etwas als Müll? Und für wen? Des einen Müll ist des anderen Schatz, weiß eine alte Küchenweisheit, siehe die in Freiburg sehr populären Verschenkekisten. Im Müll wird nicht weniger das Allgemeine im Besonderen sichtbar, denn der Umgang mit unseren Abfällen bestimmt nicht nur, wie wir, sondern auch, wie andere leben wollen und können.

Fair teilen?

Ebenso wie die Mythen und Klischees die Identität einer Stadt prägen, tun es ihre Konflikte und Brüche. Und die unterscheiden sich auf den ersten Blick in Freiburg gar nicht so sehr von anderen Städten – ihre Eigenheiten zeigen sich oft erst im Detail.
Dass in Freiburg beispielsweise Wohnraum knapp und teuer ist, weiß jede*r und viele der Gründe dafür finden sich so oder so ähnlich auch in anderen deutschen Großstädten. Die Freiburg spezifische historische Dimension dieses Problems, sorgsam recherchiert und nachlesbar in „wachsen“ (Tobias Becker), ist hingegen weitgehend unbekannt. Oder wussten Sie, dass bereits im Jahr 1872 eine „Gemeinnützige Baugesellschaft“ gegründet wurde, die sich dem damaligen privatwirtschaftlichen Bauboom, der sich vor allem auf Luxusimmobilien konzentrierte, entgegenstellte und ein Eingreifen der Stadt für mehr bezahlbaren Wohnraum forderte? Und das wiederum damit zu tun hatte, dass Freiburg unter Industriellen aus dem Ruhrgebiet ein beliebtes Altersdomizil war? Die Geschichte klingt vertraut.
In Freiburg wird und wurde längst nicht alles fair geteilt. So auch, man verzeihe den Kalauer – am Fairteiler. Das Konzept der gleichberechtigten Verteilung nicht verkaufter Lebensmittel ist zwar Freiburg nicht eigen, in jedem Fall steht es aber emblematisch für ein Bündel von Eigenschaften, mit denen Freiburg gern beschrieben wird. Wie es dann aber tatsächlich am „Fairteiler“ zugeht (nicht so fair), zeichnet Karlin Schumachers gleichnamiges Kapitel in einer Reihe interessanter und teils amüsanter Beobachtungen nach und erlaubt damit abermals Rückschlüsse von einem vermeintlich kleinformatigen Prozess auf übergeordnete, stadtspezifische Strukturen. Was bedeutet ein solidarisches und tolerantes Zusammenleben in der Stadt? Und wie gestaltet sich dies im Alltag? Wie so oft sind hier Außenwahrnehmung und tatsächliche Erscheinung zwei verschiedene Paar Schuhe. Siehe dazu auch „vermitteln“ von Oliver Noel Estay Arndt, in dem der Konflikt rund um Freiburgs ersten Späti behandelt wird – eine ganz andere und doch sehr ähnliche (Freiburger) Geschichte.
Sarah May (Hrsg.): Alltag findet Stadt. Freiburg als Beispiel. Mit Beiträgen von Oliver Noel Estay Arndt, Tobias Becker, Lea Breitsprecher, Marlene Diemb, Leonie Hagen, Sarah May, Nicole Nicklas, Karlin Schumacher, Julia Voswinckel.
Waxmann Verlag 2020, Freiburger Studien zur Kulturanthropologie, 176 Seiten, 24,90€.

Bildquellen

  • ub-1: Finn-Louis Hagen
  • Blick aufs Freiburger Schwabentor: Finn-Louis Hagen