Neuerscheinungen: Poesie und Chanson

Form und Tonfall machen die Poesie aus sowie die Befreiung von eindeutigen Inhalten. „Vom Glück des poetischen Lebens“ ist ein schmaler Band betitelt, mit dem der Autor Wolfgang Matz an das Werk der französischen Lyriker und Hommes de lettres André du Bouchet (1924-2001), Yves Bonnefoy (1923-2016) und Philippe Jaccottet (1925-2021) erinnert. Alle drei begannen nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu schreiben; Selbsterforschung, gelehrte Auseinandersetzung mit Literatur und Kunst sowie die sinnliche Zugewandtheit zur alltäglichen Gegenstandswelt war ihnen gemeinsam – Licht, Bäume, Farben, Pflanzen und der weite Himmel in der südfranzösischen Landschaft zwischen den Gebirgen der Drôme und der Haute-Provence prägen ihre Werke. Paris empfanden sie als abweisend. Wie anders zeigte sich dagegen etwa Philippe Jaccottets Wohnort Grignan, spärlich bewohnt, wenige Autos und über engen Gassen das baufällige Schloss der Madame de Sévigné, bevölkert von Fledermäusen. Poesie pur bietet hier bereits ein Blick ringsum: Montagne de la Lance, Vercors, im Westen die Ardèche, im Süden die Dentelles de Montmirail und der Mont Ventoux. Für Jaccottet sollten die „Arbeit des Schreibens und die Form des Lebens, die Art, wie man sich im Leben verhält, untrennbar miteinander verbunden sein“; er begriff Poesie im Sinne Ungarettis als „Tagebuch“, erzählt vom Gehen, Sehen, Atemholen, von der Zerbrechlichkeit der Existenz und vom Abschiednehmen. Gleichzeitig leistete er Großartiges für die Literatur, indem er z.B. Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ins Französische übersetzte.

Auch André du Bouchet zog es von Paris in die Drôme, wo er meist im Hundert-Seelen-Weiler Truinas lebte. Seine Lyrik sucht nach dem Offenen, ist Resultat langer Spaziergänge oder Fahrten durch Berge, Felder, Wälder, durch elementare Landstriche, in denen das Auge momentweise Phänomene berührt hat, die später in Gedichten nachklingen: „Ich bin dem Tag gefolgt, ich habe ihn durchschritten, / wie Ländereien“. Worte wie „Feuer“, „Glut“, „Gletscher“, „Stroh“, „Wind“ und „Sommer“ werden variiert, Metaphern vermieden. Die Sprache scheint ihre Fühler in eine sich verändernde Atmosphäre auszustrecken, orientiert sich aber zudem an Prinzipien der modernen Kunst, an Giacomettis Minimalismus etwa, der auf einen Menschen weist, dessen Humanität von Auszehrung bedroht ist. Einfluss auf du Bouchet hatten viele Autoren, mit denen er als Übersetzer im Dialog stand: Joyce, Mandelstam, Hölderlin. Paul Celan, Autor der vom Verstummen bedrohten Lyrik „Atemwende“, sah in du Bouchet einen Geistesverwandten, und übersetzte dessen Band „Dans la chaleur vacante“ („Vakante Glut“) ins Deutsche: „Ein Weg, wie ein Sturzbach außer Atem. Ich leihe meinen Atem den Steinen. Ich schreite zu, Schatten auf den Schultern“.
Auch das Werk von Yves Bonnefoy durchziehen Gedanken von Unterwegssein, Verwandlung und Übergang; dem städtischen Leben stand er aber weniger fern, war an verschiedenen Universitäten tätig, hat Shakespeare übersetzt und gründete nicht zuletzt die Zeitschrift „L‘éphemère“. Ein inspirierendes Bild war ihm der Küstenfluss Douve, Poesie definierte er einmal als „Gegenlicht“. „Lever les yeux de son livre“ („Vom Buch aufschauen“) heißt einer seiner Essays, der die bewusste Unterbrechung und Hinwendung zur Wirklichkeit thematisiert, eine Art poetischer Auftakt. Alles scheint sich unausweichlich zu entziehen, in die Fülle des weiten Himmels. Worte umkreisen es, lassen es spüren, ohne explizit zu werden. Unmöglich, diese Komplexität auf eine knappe Formel zu bringen; der Leser möge sich „Beschriebener Stein“ und „Die gebogenen Planken“ selbst zu Gemüte führen.

Eine etwas andere Auffassung von Poesie, mehr in Richtung Innerlichkeit, ergibt sich aus den zehn Briefen, mit denen Rainer Maria Rilke von 1903 bis 1908 einem jungen Dichter geantwortet hat, der sich mit seinen Selbstzweifeln an ihn gewandt hatte. Nicht Rilke veröffentlichte die „Briefe an einen jungen Dichter“, jedoch der Adressat Franz Kappus nach dessen Tod; sie wurden zum Brevier für Künstler und Kreative, die an einem wichtigen Punkt ihres Schaffens stehen und sich fragen, wie und ob sie weitermachen sollen. Nun sind die Briefe erstmals – nach über hundert Jahren – inklusive der Anschreiben von Kappus veröffentlicht worden, womit genauer erkennbar wird, auf welche Fragen Rilke damals geantwortet hat. Künstlersein bedeutet für ihn Schweres tragen, aber auch die Zeit arbeiten zu lassen, wie ein berühmtes Zitat nahelegt: „ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten (…)“. Die Briefe des jungen Dichters wirken heute mitunter devot und artifiziell. Doch Rilkes Gedanken zur Einsamkeit, die man „vertauschen möchte gegen irgendeine noch so banale und billige Gemeinsamkeit, gegen den Schein einer geringen Übereinstimmung mit dem Nächsten …“, stiften zu einer förderlichen Introspektion an.

• Wolfgang Matz. Vom Glück des poetischen Lebens. Erinnerungen an André du Bouchet, Ives Bonnefoy und Philippe Jaccottet. Wallstein Verlag 2022
• Rainer Maria Rilke. Briefe an einen jungen Dichter. Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus. Erich Unglaub (Hg.). Wallstein 2022
• André du Bouchet. „Vakante Glut / Dans la chaleur vacante“. Gedichte. Französisch und Deutsch. Übertragen von Paul Celan. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020

Bildquellen

  • Wolfgang Matz: © Wallstein
  • Rilke: Briefe an einen jungen Dichter: © Wallstein
  • Rilke: Briefe an einen jungen Dichter: © Wallstein