Lesestoff für herbstliche Tage

Wer hier angelangt, muss nicht perfekt sein, aber unvergleichlich, wie etwa Josephine Baker, die im November dieses Jahres in das Pariser Pantheon aufgenommen wird. Die berühmte afroamerikanische Tänzerin mit Bananenröckchen war zudem eine Kämpferin, die sich gegen Rassendiskriminierung und gegen die Nazis wehrte; sie besser kennenzulernen, ermöglicht nun eine detaillierte Biographie der Autorin Mona Horncastle. Als Freda McDonald wurde Baker 1906 in Saint Louis geboren, als Tochter einer Wäscherin im Armenviertel. Trotz schlechter Ausgangsbasis wird es ihr gelingen, die Gesetze der Rassentrennung auszuhebeln und ihre eigenen Regeln zu erfinden, ob auf der Bühne oder im Leben. Vom skandalösen Bühnenstar entwickelt sich Baker zur politischen Figur. Ihr Ruhm begann in den 1920er-Jahren in Paris. Als Frankreich durch Nazi-Deutschland besetzt wird, ist sie mit einem Juden verheiratet, sie schließt sich der Résistance an, versteckte an ihrem Wohnsitz Menschen und schmuggelte Informationen nach Portugal. In Nordafrika gelingt es ihr, das Ende der Rassentrennung im Publikum durchzusetzen, sodann wird sie in den USA zu einer Ikone der Bürgerrechtsbewegung. Mit der Devise „Leben ist Tanz“ hat sie sich selbst befreit und ihren Ruhm genutzt, um für andere zu kämpfen. Auch adoptierte sie Kinder aus allen Kulturen für eine „Regenbogenfamilie“, was in finanzieller Hinsicht ein wenig desaströs war, doch als sie 1975 nach einer fulminanten Gala verstarb, erhielt sie ein Staatsbegräbnis.

Sophie Taeuber-Arp, eine Revolutionärin der Bildenden Kunst, lässt sich nun durch Briefe und Postkarten kennenlernen, die sie zwischen 1932 und 1942 an das Ehepaar Annie und Oskar Müller-Widmann in Basel schrieb. Diese wurden erstmals veröffentlicht, ergänzt um einen Essay, der dem exzellenten Schaffen der Künstlerin gewidmet ist. In ihrer Briefpost geht es um künstlerische Projekte und Ausstellungen, aber auch um private und historisch bedrängende Vorgänge. 1940 sahen sie und Hans Arp sich gezwungen, ihr Haus bei Paris zu verlassen; davon erzählt sie ebenso wie vom Exodus, der mit dem deutschen Überfall auf die Benelux-Staaten und die NS-Besatzung Frankreichs beginnt. Auf den Stationen von Flucht und Exil verursacht ein tragischer Unfall ihren Tod.

Victor Klemperer beginnt im Jahr 1929 ein „Kinotagebuch“, nun unter dem Titel „Licht und Schatten“ ediert. Damals ging er in Dresden leidenschaftlich ins Lichtspielhaus und notierte anschließend, wie er Schauspieler*innen sowie dargestellte Geschichten und ihre filmischen Mittel wahrgenommen hat. Kaum etwas ließ er sich entgehen, ob Meisterwerk oder Unterhaltungskino. Der Film „Frau im Mond“ von Fritz Lang begeistert ihn („technisch ungemein packend“); anfangs lehnt er den Tonfilm ab, bis er 1932 „Der blaue Engel“ sieht, der Inhalt sei zwar „melodramatischer Kitsch – claro“, aber „die Marlene Dietrich, fast noch besser als Emil Jannings“. Chaplins „Großstadtlichter“ sieht er skeptisch. Zu „Herrin der Liebe“ (1929) hält er fest: „völlig wirr, sinnlos, kitschig, aber die Garbo sehr schön und ausdrucksvoll“. Zu Beginn seines Tagebuchs geht er sorglos ins Kino, doch bald wird ihm seine Lehrbefugnis als Romanist entzogen, Freunde wenden sich ab. Konsterniert reflektiert er das Zeitgeschehen und die hysterischen Wochenschauen, die zum „qualvollen Teil“ jedes Kinoabends werden: „Heilgebrüll am Brandenburger Tor, ausgestreckte Faschistenarme“. Auch in den Filmproduktionen wird Propaganda allgegenwärtig; „der deutsche Lustspielfilm marschiert“. Nach einer Hitlerrede charakterisiert er die Sprache des Dritten Reichs (LTI): „Das böse Gewissen, sein Dreiklang: sich verteidigen, sich rühmen, anklagen – niemals ein Moment des ruhigen Aussagens“. 1938 wird Juden der Kinobesuch verboten; Klemperer hilft sich über die Schikanen hinweg, indem er u.a. Filmszenen geistig rekapituliert. Chapeau!

Roberto Rossellinis Filmklassiker „Paisà“ (1946) befasst sich in sechs Episoden mit der Befreiung Italiens von Nationalsozialismus und Faschismus durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg; an der Produktion war auch Klaus Mann beteiligt, doch sein dafür vorgesehenes Drehbuch „Der Kaplan“ wurde letztlich nicht realisiert. Den entsprechenden Text, spät wiederentdeckt, hat die Autorin Susanne Fritz nun veröffentlicht, in einem Buch, das weitere literarische Werke von Klaus Mann enthält sowie Kommentare dazu. „Der Kaplan“ spielt in der Gegend um Florenz. Dort war der Autor im Winter 1944/45 als Angehöriger der 5th Army stationiert und erwartete im Sommer 1945 in Rom die Entlassung; er lernte Rossellini kennen und es entstand die Idee zu „Paisà“. Zunächst leitete Klaus Mann ein Drehbuchteam, doch überwarf er sich mit Rossellini und „Der Kaplan“ fiel unter den Tisch. Dieses Scheitern seines ersten Projekts nach Exil und Krieg dürfte enttäuschend für ihn gewesen sein. Im „Kaplan“ geht es um große Fragestellungen, u.a. darum, wie man sich mit Worten der Gewalt entgegenstellen kann. Hauptfiguren sind ein faschistischer Jugendlicher, ein General sowie ein Kaplan, der in seiner Weihnachtsbotschaft vor einem Militärkonvoi, der in den Bergen des Appenin im Schlamm festsitzt, an Nächsten- und Feindesliebe appelliert. Warum dies den General wenig begeistert? Das Buch hilft dies zu verstehen.

Unter dem Titel „Paris denken / Penser Paris“ befasst sich ein Buch des Literaturwissenschaftlers Karlheinz Stierle mit der Stadt Paris, die auf Schriftsteller, Intellektuelle, Künstler und Bohémiens aus aller Welt seit jeher eine starke Anziehungskraft ausgeübt hat; so wurde die komplexe Zeichen- und Erscheinungswelt der französischen Metropole stetig neu zu Texten und Bildern verarbeitet. Stierle beschäftigt insbesondere, unter welchen Aspekten deutsche Künstler von Paris angezogen werden; auch fragt er nach deutsch-französischen Interferenzen, wenn er etwa fragt, ob Friedrich Schlegels Vorstellung einer grenzenlos wachsenden Universalpoesie auf die Stadtvision von Victor Hugo wirkte oder zeigt, dass Rainer Maria Rilke erst in Paris zur eigenen dichterischen Sprache gefunden hat. Thematisiert werden auch Georg Simmel, Hugo von Hofmannsthal, Walter Benjamin und Peter Handke; und selbstverständlich stoßen wir in diesem gelehrten Buch auf Baudelaire, Zola, Rodin, Maxime du Camp und Flaubert. Paris birgt viele Epochen, ist Projektionsfläche und Existenzform – ein idealer Ort für Künstler.

Gustave Flaubert ist im Alter von 58 Jahren über der Arbeit an diesem komischen Roman 1880 gestorben, so blieb „Bouvard und Pécuchet“ unvollendet. Jetzt ist das Buch in einer schlüssigen Neuübersetzung erschienen. Die Hauptfiguren „Bouvard und Pécuchet“ halten sich für recht schlau, rund vierzig Jahre lang experimentieren sie auf diversen Gebieten, sind aber danach „genauso klug als wie zuvor“. Und so fing es an: die biederen Kerle leben als Kopisten in Paris und träumen vom Leben auf dem Land; Bouvard erbt und die beiden Freunde können sich ein Landgut kaufen, das sie aber Zug um Zug mit immer neuen Ideen ruinieren, gehe es nun um Obstbäume oder um Raupenzucht. Am Ende wollen sie nach Paris in ihren alten Beruf zurück und nur noch die „Dummheiten“ berühmter Autoren abschreiben. Der Leser wohnt einer Komödie bei und das dürfte Flauberts Absicht entsprechen; er nimmt die Tölpelhaftigkeit naiver Besserwisser aufs Korn und hat dafür – nach eigenen Aussagen – zahllose Bücher gelesen. Insofern könnte das Werk auch ein ironisches Selbstportrait des Autors sein, der fortwährend liest und mit seinen literarischen Projekten in Verzug gerät. Eine vergnügliche Lektüre.

Victor Klemperer. „Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929-1945“. Nele Holdack / Christian Löser (Hg.). Aufbau Verlag, Berlin 2020
Klaus Mann. Der Kaplan. Ein Drehbuch für Rossellinis Filmklassiker Paisà (1946). Susanne Fritz (Hg.). Wallstein, Göttingen 2021
Mona Horncastle. Josefine Baker. Weltstar, Freiheitskämpferin, Ikone. Molden Verlag, Wien 2020
Briefe von Sophie Taeuber-Arp an Annie und Oskar Müller-Widmann. Scheidegger & Spiess, Zürich 2021
Karlheinz Stierle. Paris denken / Penser Paris. Deutsch-französische Annäherungen. Suhrkamp 2021
Gustave Flaubert. Bouvard und Pécuchet. Roman. Aus dem Frz. von Hans-Horst Henschen. Wallstein, Göttingen 2021

Bildquellen

  • Buchtipps kurz und knapp: Foto: promo