Krisenlösung Grundeinkommen? Im Gespräch: Prof. Dr. Bernhard Neumärker, leitender Direktor des FRIBIS (Freiburg Institute for Basic Income Studies)

Dieses Jahr fand im Freiburg Institute for Basic Income Studies (FRIBIS) eine Masterclass mit 14 Doktorand*innen und Masterstudierenden zum Thema Grundeinkommen statt. Die Leitung übernahm der Politologe Prof. Claus Leggewie (Universität Gießen). Als Resultat der Masterclass wurden 10 Freiburger Thesen zum Grundeinkommen veröffentlicht, die wie das Grundeinkommen selbst diskutiert werden wollen. Fabian Lutz traf dazu Prof. Dr. Bernhard Neumärker, leitender Direktor des FRIBIS.

UNIversalis: Herr Neumärker, in der Pressemitteilung zur Masterclass weist Claus Leggewie darauf hin, dass das Bedingungslose Grundeinkommen ein wirkungsvolles Instrument gegenüber Krisen darstellt. Ich nehme an, Sie stimmen ihm zu?

Bernhard Neumärker: Absolut. Mit der Pandemie oder der Gas- und Energiekrise beispielsweise hat niemand rechnen können. Auch wusste niemand, wen die Krise auf welche Weise trifft. Auf solche unerwarteten Ereignisse kann man nur mit einem breit aufgestellten Mechanismus wie dem BGE reagieren. Ein bedürftigkeitsgeprüftes, zielorientiertes System versagt hier regelrecht.

UNIversalis: Warum das?

Bernhard Neumärker: Das konnten Sie in der Pandemie sehen. Da wurde zuerst denen geholfen, die als „systemrelevant“ eingestuft wurden. Natürlich wollten alle beweisen, dass sie „systemrelevant“ sind. All dieses Geschacher würde mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen wegfallen.

UNIversalis: Die Lösungsvorschläge der Masterclass sind ja sehr zugespitzt formuliert. Warum das reduzierte Format der Thesen und keine ausführlichere Stellungnahme zum BGE?

Bernhard Neumärker: Die vielfältigen Ergebnisse der Masterclass mussten wir natürlich kondensieren. Gleichzeitig lädt eine kurze These auch eher zur Beschäftigung mit dem Thema ein, wenn man sie etwa, wie in diesem Fall, in der Zeitung liest. Wenn jemand da von „Selbstbestimmung“ liest und merkt, dass das am eigenen Arbeitsplatz kaum umgesetzt wird, reicht das vielleicht schon, damit er sich mehr mit dem BGE auseinandersetzt.

UNIversalis: Unter dem Stichwort „Freiburger Thesen“ fallen mir die vier Freiburger Thesen der FDP von 1971 ein. Gibt es hier einen bewusst gesuchten Anschluss?

Bernhard Neumärker: Ja und nein. Natürlich sind das FRIBIS und auch mein Lehrstuhl, die Götz Werner Professur, ganz bewusst in Freiburg platziert worden. Freiburg steht nicht nur in der Tradition freiheitlichen Denkens, sondern ist auch Heimat des Konzepts des Ordoliberalismus (Anm.: der Staat schafft einen Ordnungsrahmen für den ökonomischen Wettbewerb). Gleichzeitig will das Institut diesen heute etwas altbacken anmutenden Ansatz mit dem „Neuen Ordoliberalismus“ auf neue Füße stellen. Auch agieren wir völlig unabhängig von irgendeiner Partei.

UNIversalis: In der zweiten These fällt der Begriff „realutopischer Prozess“. Damit zumindest hätten Sie viele Neoliberale vermutlich bereits abgeschreckt. Was meint der Begriff im Rahmen des BGE?

Bernhard Neumärker: Das BGE existiert noch nicht und würde einen Systemwandel in der Sozialpolitik bedeuten, deshalb kann man zunächst von einer sozialen Utopie sprechen. Gleichzeitig sind wir mit dem Kindergeld oder mit dem Klimabonus in Österreich von realen, unbedingten Zahlungen gar nicht so weit entfernt. Während aber viele die soziale Utopie des BGE als Science Fiction oder Projekt von Gutmenschen kritisieren, ist das Kindergeld vollkommen unumstritten. Dabei verhält es sich beim Kindergeld wie beim Bedingungslosen Grundeinkommen: Ob reich oder arm, jedes Kind ist qua Geburt anspruchsberechtigt, die Eltern setzen das Geld für ihr Kind ein. Es geht also nicht mehr um Bedürftigkeit wie bei Hartz4 oder Wohngeld. Und es ist ein Prozess.

UNIversalis: Was folgt als nächstes im realutopischen Prozess?

Bernhard Neumärker: Gerade wird die Aufstockung des Kindergelds zur Kindergrundsicherung diskutiert. Ein anderes Beispiel war die Idee der Einrichtung einer Grundrente mit einem Betrag von 1050 Euro für alle, die 35 Jahre am Stück gearbeitet haben. Den Vorschlag hatte Hubertus Heil damals in die Große Koalition eingebracht, wobei die CDU mit Auflagen gegengesteuert hatte. Beim neuen Bürgergeld sind ebenfalls Gedanken des BGE enthalten. Während der Zahlungen in der Krise hat man gemerkt, dass man nicht die Zeit hat, alle Bedürftigen einer Vermögensprüfung zu unterziehen. Also hat man die Prüfung ausgesetzt. Beim Bürgergeld sollen auch einige dieser Prüfungen entfallen, womit man sich dem Konzept der Bedingungslosigkeit annähert.

UNIversalis: Die Chance für die Realisierung eines vollen BGE?

Bernhard Neumärker: Im FRIBIS wollen wir aktiv werden, damit man vom Bürgergeld tatsächlich zum Bedingungslosen Grundeinkommen gelangt. Ob es nämlich zum Erfolg führt, wenn man sich nur einzelne Elemente vom Bedingungslosen Grundeinkommen herausnimmt, bleibt die Frage. Denn am Ende verhandelt doch wieder jede Partei für ihre Klientel mit und wir sind wieder beim Geschacher um „Special Interests“, wie wir es während der Pandemie sehen konnten.

UNIversalis: Im Grunde spricht für das BGE die starke Vereinfachung. Gerade auch für die Verwaltung, die weniger bürokratischen Aufwand bei der Verteilung hat.

Bernhard Neumärker: Ja, absolut. Aber zuerst gilt die Vereinfachung für die Menschen, die das BGE erhalten und das sind wir alle. In Experimenten konnte man beobachten, wie erleichtert Menschen waren, die durch das BGE deutlich entlastet wurden und sich mehr um ihr Leben oder auch ihre Kinder kümmern konnten.

UNIversalis: Sind wir beim Individuum angekommen, sind wir auch schon beim klassischen Einwand gegen das BGE: Wer macht noch die Arbeit, wenn alle Menschen finanziell entlastet sind? Wo bleiben die Anreize?

Bernhard Neumärker: Zunächst müssen Menschen ihre Betätigungsfelder überhaupt finden können. Wenn etwa jemand feststellt, dass er künstlerisches Talent hat, dafür aber keine Finanzierung bekommt, kann er seine Kunst mit dem BGE erst einmal produzieren. Vielleicht entsteht für seine Werke ja in vier Jahren ein Markt. Bis dahin wäre er also nicht in einem Bürojob geistig verarmt. Er erhält das, was ich „Zeitsouveränität“ nenne. Die volle Lebenszeit wird persönlich relevant. Das bedeutet auch, dass die Menschen zunächst die Freiheit haben sollen, zu arbeiten und zu kaufen, was sie wollen. Ob das am Ende ein Porsche oder Picasso ist, will ich als Ökonom nicht entscheiden. Und wenn manche Menschen mit BGE nicht mehr arbeiten wollen, da man ihnen abseits ökonomischer Sachzwänge nichts Attraktives am Arbeitsmarkt anbietet, ergibt sich eben eine Abkehr vom herrschenden Wachstumsparadigma, wie es viele, etwa von der ökologisch motivierten „Degrowth“-Bewegung längst fordern. Das kann man auch positiv sehen.

UNIversalis: Vielleicht sollte die Frage nach Anreizen auch gar nicht an Sie gehen, sondern an die Sozialpsychologie oder Pädagogik. Braucht es für ein BGE nicht auch eine Bildungsoffensive, die allen Menschen dabei hilft, die Tätigkeit zu finden, die sie erfüllt, sodass sie von sich aus einen Anreiz entwickeln, ihren Job zu tun?

Bernhard Neumärker: Da stimme ich Ihnen völlig zu. Natürlich müssen die Menschen wissen, wie sie mit dem Mittel des BGE umgehen können. Also: Den Menschen keine Bedingungen vorgeben, aber anregen, dass sie ihren Potentialen nachgehen. Die Ansage wäre dann: Nur du kannst wirklich einschätzen, welche Tätigkeit die richtige für dich ist. Und wie gesagt: Wenn viele Menschen ihren Potentialen nachgehen, werden sich infolgedessen auch neue Märkte bilden. Auf der Basis von Grundeinkommen können sich Menschen zusammentun und beispielsweise Start-Ups gründen. Daraus wird eine Produktivität und Kreativität entstehen, die wir heute noch gar nicht kennen. Wir nennen das auch eine Dividende: Die Gesellschaft gibt den Menschen einen Vorschuss, damit sie sich selbst und für die Gesellschaft entwickeln können.

UNIversalis: Das klingt nach einer schönen, neuen Welt. Wer aber macht dann die prekären Jobs wie Reinigungsarbeiten oder Pflegetätigkeiten?

Bernhard Neumärker: Natürlich sind diese Jobs in der Wettbewerbsgesellschaft latent unterversorgt oder unterbezahlt. Das haben wir in der Corona-Krise gesehen. Die Pflegekräfte wurden mit einer Einmalzahlung abgespeist, beklatscht, aber ihr Potential wurde letztlich nicht anerkannt. Wenn Pflegekräfte aber nun ein Grundeinkommen haben, werden sie sich weigern, noch für einen lausigen Lohn zu arbeiten. Das gibt ihnen eine Macht, die sie zuvor noch nicht hatten. Wenn es Raum für Streiks und einen individuellen Ausstieg aus der Lohnarbeit gibt, wird sich die Zahlungsbereitschaft für diese Jobs erst wirklich entwickeln. Und: Weil die Arbeitgeber selbst BGE erhalten, können sie höhere Gehälter auch eher auszahlen oder noch dazu mehr Gewinne erwirtschaften. Deshalb bin ich auch als Ordoliberaler für das BGE, weil ich glaube, dass Märkte so erst richtig entstehen. Faire Märkte ohne verdeckte Ausbeutungen.

UNIversalis: Das klingt schon weit weniger nach Utopie, dafür aber nach harter Arbeit. Wer will sich schon bestreiken lassen?

Bernhard Neumärker: Das ist das eigentliche Problem, das, was das BGE noch zur Utopie werden lässt: Nicht, dass die Leute faul würden oder man das BGE nicht finanzieren kann, sondern dass Menschen im aktuell bestehenden Wettbewerbssystem dafür Macht abgeben müssten. Das wollen natürlich viele Kapitaleigner und Landeigner nicht. Aber ich sage immer: Die Idee des BGE ist nur im Denken revolutionär, nicht in der Umstellung des Sozialsystems. Am Ende hätten die Arbeitgeber mit zufriedenen, produktiveren Arbeitnehmern voraussichtlich besser verdient. Wenn Sie diese Sozial- oder Realutopie gegen den Machterhalt setzen, sehen Sie, dass das alte Wettbewerbssystem nicht automatisch begründet und besser ist.

UNIversalis: Also ein Perspektivwechsel.

Bernhard Neumärker: Ja. Und wenn viele Arbeitgeber wieder warnen, dass mit dem BGE die Armut kommt, weil sie ihre Firmen bei höheren Löhnen schließen müssten, kann man aus dieser Perspektive sehen, dass das keine Warnung ist, sondern eine Art „Erpressung“ zum Schutz vor Machtverlust. Aber die wird nicht mehr funktionieren, weil mit einem BGE keine Armut drohen kann, auch nicht für die Arbeitgeber, die selbst auch BGE beziehen. Da müssen die Arbeitgeber schon konstruktiver mit den Forderungen der Arbeitnehmer umgehen.

UNIversalis: Würden Sie letztlich auch von einer ethischen Dimension des BGE sprechen?

Bernhard Neumärker: Natürlich. Nehmen wir als Beispiel das Sozialversicherungssystem. Aktuell ist es vollkommen an der Erwerbsarbeit orientiert. Ihre Gesundheit interessiert vielleicht Ärzte oder Pflegekräfte mit ihren ethischen Maßstäben. Das Gesundheitssystem an sich entlässt Sie aber auch mit Krücken, sobald Sie damit arbeitsfähig sind, damit die Effizienz des Krankenhauses gesteigert wird. Man spart Liegezeit. Das Stichwort heißt: „Return To Work!“ Arbeiten können Sie gegebenenfalls auch mit Krücken. Ihre Gesundheit misst sich also daran, was Sie in Ihrer Erwerbsarbeit leisten können. Das ist eine Reduktion des Menschen und eine Einschränkung seiner Selbstbestimmtheit, die wir mit dem BGE überwinden können.

UNIversalis: Ökologie, Soziales, Psychologie. Das BGE berührt viele Aspekte. Kam das in der Masterclass von Claus Leggewie alles zusammen?

Bernhard Neumärker: Ja, die Masterclass war interdisziplinär ausgerichtet. Die teilnehmenden Doktorandinnen und Doktoranden kamen aus vollkommen unterschiedlichen Fachrichtungen, neben den Wirtschaftswissenschaften auch Theologie, Ethnologie, Sprachwissenschaften oder Philosophie. Zudem hatte Claus Leggewie Vortragende verschiedener Disziplinen und politischer Richtungen eingeladen, ob eher links orientiert, feministisch oder liberal bis neoliberal. In diesem fachübergreifenden Zusammentreffen wurden die 10 Freiburger Thesen geschaffen.

UNIversalis: Lieber Herr Neumärker, ich bedanke mich für das Gespräch.

 

Die 10 Freiburger Thesen

1. Das BGE unterstützt den Wunsch nach einer Selbstbestimmung, die aus Freiheit und Verantwortung für sich selbst und andere erwächst.
2. Das BGE ist in Teilen bereits Realität (z. B. in Form von Kindergeld). Die Weiterentwicklung ist ein andauernder „realutopischer“ Prozess. Die Debatte darum verhandelt, welche Zukunftsvorstellungen wir umsetzen wollen.
3. Eine Grundeinkommensgesellschaft kann Menschen mehr Handlungsspielräume verschaffen, um sich zu bewähren, zu entfalten und mit ihren verschiedenen Talenten einzubringen.
4. Das garantierte Grundeinkommen eröffnet allen Geschlechtern Möglichkeiten für emanzipatorische Prozesse, verringert Abhängigkeitsverhältnisse (mindert also die „Macht über“) und fordert gleichzeitig zur Verantwortung für sich und andere auf (ermutigt also zu „Macht zu“).
5. Der Freiheitsspielraum, den ein garantiertes Grundeinkommen eröffnen soll, wird nicht erst durch einen revolutionären Bruch geschaffen. Er beruht auf Experimenten und Maßnahmen, die bereits jetzt erfolgen und die in allen politischen Lagern und Milieus anschlussfähig sind.
6. Sinnstiftung findet nicht erst und nicht nur im Bereich der Freizeit statt, sondern auch in der professionellen, bezahlten (Lohn-)Arbeit der generativen, sozialen und materiellen Reproduktion.
7. Das BGE verstärkt vorhandene Tendenzen zu kürzeren Tages-, Jahres- und Lebensarbeitszeiten und kann dabei vor Verarmung und Massenarbeitslosigkeit schützen.
8. Flexible Arbeitsverhältnisse sind nur erwünscht, wenn sie die Selbstbestimmung der Arbeitnehmer*innen stärken und auf Augenhöhe ausgehandelt werden. Voraussetzung dafür ist die (hohe) Qualifikation und Anerkennung der Arbeitskraft, die wiederum durch kollektive Arbeitsverträge geschützt werden.
9. Auch im Hinblick auf die notwendige (weltweite) ökologische Transformation bietet das BGE Möglichkeiten, lokale und globale Initiativen der Transformation zu mehr Nachhaltigkeit zu stärken und zu fördern.
10. Soziale Innovation muss von der Gesellschaft, von der Mehrheit der Bürger*innen getragen werden. Ein BGE gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung (re)produziert nur Entmündigung und hierarchische Machtverhältnisse.

Bildquellen

  • Krisenlösung Grundeinkommen?: Foto: imago images/CommonLens
  • Bernhard Neumärker: Foto: Patrick Seeger