Horror der Mutterschaft: Jessica Linds fantastischer Roman „Mama“ erzählt von der Angst im Kinderwunsch

Jessica Lind: „Mama“, Kremayr & Scheriau 2021.

Ein Paar geht in den Wald, um ein Kind zu zeugen und geht verloren. Dazwischen Beziehungsängste, unheimliche Begegnungen mit der Natur und Zeitsprünge. Jessica Linds Roman gestaltet Mutterschaft zum leisen Horror, aber auch zur archaischen Einheit – und streift damit zeitgenössische Debatten um Schwangerschaftsangst und schwierige Mutterrollen.
„Dann fängt Josef an, über ihre Zukunft zu reden. Über das Kind, das er Raupe nennt. Immer, wenn er das sagt, hat sie einen Parasiten vor Augen, der an ihr nagt und von ihr zehrt, bis er groß genug ist, sich zu verpuppen und aus ihr herauszubrechen wie aus einem Kokon.“ Amira fürchtet ihre Schwangerschaft und die Geburt ihres Kindes. Zunächst noch treibende Kraft hinter der Entscheidung, mit ihrem Mann Josef endlich ein Kind zu haben, bekommt sie kurz vor der Geburt kalte Füße. Im urigen Waldhaus, das beide für die Zeugung des Kindes und während der Schwangerschaftszeit beziehen, wird das süße Baby zum Parasiten, der eigene Körper wandelt sich vom warmen Nest zum Wirtskörper. Tokophobie, Schwangerschaftsphobie nennt die Weltgesundheitsorganisation die Angst, die Amira vor ihrer Geburt erlebt.
Und dann das Trauma. Plötzlich steht Amira, im einen Moment noch schwanger, ihrer kleinen Tochter auf einer Lichtung gegenüber. An eine Geburt, an keine noch so erschreckende, kann sich Amira nicht erinnern. Das Erleben einer erfolgten Geburt als traumatisch gehört zu den Symptomen der Tokophobie. Plötzlich ist da das „fremde Mädchen“ auf Josefs Arm. Zwischen Amiras Schwangerschaft und der Existenz des Kleinkinds scheinen nur Momente vergangen zu sein. Traumata hinterlassen Lücken. Und aus der Lücke schlüpft ein Kind.

Regretting Motherhood
Unter dem Titel „Regretting Motherhood“ veröffentlichte der beliebte, öffentlich-rechtlich finanzierte YouTube-Kanal „Die Frage“ am 26. Mai 2020 ein Gespräch mit Sabrina. Sabrina bereut, ein Kind bekommen zu haben. Wie für Amira war Sabrinas Kind zunächst Wunschkind. Als das Kind aber endlich auf der Welt war, fehlten jegliche „Muttergefühle“. Zwar liebt Sabrina ihr Kind, will aber keine Sorgefunktion übernehmen. Die Frau erscheint im Video anonymisiert, auch ist Sabrina nicht ihr wirklicher Name. Erkannt werden möchte sie nicht. Zu groß ist der Erwartungsdruck gegenüber Müttern, ihre Kinder zu lieben und aufopferungsvoll für sie da zu sein, zu groß das Stigma der „Rabenmutter“.
Liest man einige der Kommentare unter dem Video, das über eine halbe Millionen Aufrufe hat, sieht man, wie emotional aufgeladen das Thema ist – und wie befreiend die Aussprache Sabrinas für viele wirkt. Eine Person muss „kotzen“ angesichts der mütterlichen Selbstaufgabe, die sie als sexistische Erwartung gegenüber Frauen liest: das Kinderbekommen, die bedingungslose Liebe zum Kind, das Ignorieren der Schmerzen. Auch die Protagonistin von Jessica Linds Roman kann den Mutmachsprüchen ihrer Hebamme Carina nicht vertrauen. Das tiefe Vertrauen, das Carina dem weiblichen Körper zuspricht, hat Amira nicht, nicht gegenüber einem Körper, „der sie ständig im Stich lässt, der überhaupt nicht mehr so funktioniert, wie sie es gewohnt ist.“
Ihrem Mann Josef kann sich Amira auch nicht anvertrauen. Josef nennt ihr parasitär gewordenes Kind ohne Zynismus eine „Raupe Nimmersatt“, Josef streicht das Kinderzimmer rosa und denkt sich ihre gemeinsame Zukunft „in bunten Farben“. Unter dem Video „Regretting Motherhood“ empört sich ein Mann darüber, dass Frauen in solchen Situationen nicht beigestanden werde. Ein „richtig ekelhafter Shitstorm“ entstünde, wenn eine Frau über ihre ungewollte Mutterrolle spreche. Am Ende stellt der Kommentator, der auch Podcaster ist, die Frage: „Ist es denn so verwerflich, dass es Menschen gibt, die sich gegen das Gesetz der Natur stellen?“
Man könnte überlegen, ob Amira tatsächlich ein „Gesetz der Natur“ bricht. Die Natur schließlich, ihr Körper und der Wald um sie herum, scheinen sich ihrer Kontrolle zu entziehen. Im Wald trifft Amira auf einen seltsamen Wanderer, der ihr auch aufzulauern scheint. Sie trifft eine Hündin, die sie verfolgt und bald attackiert. Und der Wald selbst ist für Amira weniger der sinnbildliche Schoß der Natur als ein undurchdringliches, auch lebensfeindliches Geflecht. Giftpflanzen, Wege, die Irrwege sind. Bereits zu Beginn steht Amiras Unwohlsein mit der Natur: „Überall karge Stämme, die dichten Wipfel lassen kaum Licht herein.“ Kargheit und Dunkelheit. Die Lesenden wissen, dass es mit Amira und ihrem anfänglichen Kinderwunsch nicht gut kommen wird.

Mutterschaft ohne Vater
Sind weder der Körper noch der Wald sichere Rückzugsräume, ist es auch die Hütte nicht, die das Paar bezieht. Das idyllisch-urige Holzhaus gehörte einmal Josefs Vater. Der starb im Wald, als Josef noch ein Kind war. Ein Trauma, das über der Hütte hängt und den Wald noch ein Stückchen dunkler werden lässt, für Amira und für Josef. Denn Josef scheint mit seiner Vergangenheit weniger versöhnt zu sein, als Amira anfänglich zu glauben scheint. Der fehlende Vater ist Josefs traumatische Leerstelle, ein Ort, an dem Amira ihren Mann nicht erreicht. Eine Lücke verbleibt, die ihre Partnerschaft aufzubrechen droht.
Josefs Trauma besteht nicht bloß darin, dass sein Vater eines Tages plötzlich verschwand, sondern auch darin, dass er bereits zuvor nicht anwesend war:
„Ich will nicht so ein Vater sein wie er“, sagt er.
„Was war er denn für ein Vater?“
„Er wollte überhaupt kein Vater sein.“
In der Kommentarspalte unter dem Video „Regretting Motherhood“ berichtet eine Person davon, als „bereutes Kind“ in eine Familie voller unterdrückter Traumata geboren worden zu sein. Als Kind sollte sie die Probleme der Familie kompensieren. Selbst schwanger zu werden sei für sie ein „persönlicher Albtraum“. Auch im Kontext der Schwangerschaftsphobie wird von einer möglichen Vererbung der Problematik berichtet.
Mit der unverhofften Geburt des Kleinkinds aus dem Nichts akzeptiert Amira das „Gesetz der Natur“ und damit ihre Tochter Luise. Das Trauma scheint überkommen und die Einheit zwischen Mutter und Kind erreicht. Mutterschaft ist im Blick Amiras wieder jener archaische, körperliche Wunsch: „Amira hat nicht geahnt, wie sehr sie sich eins wünscht, bis sie vermutete, schwanger zu sein.“ Die Vorstellung vom Parasiten ist verschwunden, ebenso die Konkurrenz zu Josef, der die Vatergefühle mehr genossen zu haben schien als Amira ihre Schwangerschaft. Im Rückblick wirkt die schwierige Schwangerschaft als notwendiger Schritt zu einem festen Bund zwischen Mutter und Kind. Ein Bund, der dem Mann schließlich nicht mehr zugänglich ist: „Luise ist in Amira gewachsen. Josef wird niemals Teil dieser Einheit sein.“
Wer die Bibel kennt, weiß, welche Leihvaterfunktion Josef einnimmt. Nach der unbefleckten Empfängnis bleibt er zwar Mann Marias, ist jedoch nicht Vater des Gottessohns. In Linds Roman tritt an die Stelle Gottes die Natur. Wann genau Amira, deren Namensähnlichkeit zu Maria in diesem Kontext sicher nicht zufällig ist, schwanger wird, ist nicht klar, jedoch findet sie ihr plötzliches Kind im Wald auf, als sei es eine Gabe der Natur.
Eine erzählerische Vorausdeutung dieser Ereignisse erlaubt sich der Roman auch. In der Hütte findet Amira ein Märchenbuch, das Josefs Vater geschrieben hat. Dort erzählt er von einer Mutter und ihrem Kind. Beide leben in einer Hütte, von einem Vater ist nicht die Rede. Das Kind hat der Wald geschenkt – wenn auch zu einem Preis: Beide dürfen den Ort nicht verlassen. Das Märchen reicht jedoch vorauseilend ein Happy End nach: „So waren sie vergessen von der Welt und es war gut, denn sie brauchten zu ihrem Glück nichts als einander.“ Und siehe, es war gut: Wie ein Bibelautor setzt Josefs Vater eine Welt, die ihn, den menschlichen Vater nicht braucht. Eine Welt, die sein Sohn nicht akzeptieren will – aber muss. Denn, so viel sei auch hier vorausgegriffen, Amira, ihr Kind und der Wald gehen eine Beziehung ein, die intensiver ist, als sich das Josef mit seinen Vateransprüchen nur wünschen kann.

Mutterschaft im Wald
„Mama“ ist kein Buch, das bloß von den Problemen der Mutterschaft erzählt. Mama sucht Orte, Bilder und Symbole, um der emotionalen Verwirrung seiner Protagonistin Amira Ausdruck zu verleihen. Dafür ist der Wald als Handlungsort und Symbol ideal. Wie einige Orte der Natur wird auch er in der westeuropäischen Kultur äußerst ambivalent gewertet. Mal gilt er als Schoß der Natur, mal als Kirche Satans, mal als undurchdringliches Dickicht, Erholungsort, romantisch verklärtes Idyll, Labyrinth oder Rückzugsort. Von seinen Zuschreibungen zu trennen, ist der Wald in keinem Fall, ebenso wenig von der Protagonistin des Romans. Ihre widersprüchlichen Gefühle zur Schwangerschaft und Mutterschaft spiegeln sich in der mal behütenden, mal gefährlichen Umgebung.
Als Amira die Figur des mysteriösen Wanderers zum ersten Mal trifft, ist er eine klassische Schreckgestalt, die den verängstigten Menschen geisterhaft verfolgt. Akzentuiert wird dieser Charakter durch die Ähnlichkeit des Wanderers zu Josefs verstorbenem Vater, der ebenfalls als uriger Naturbursche beschrieben wird und seit seinem Tod im Wald um die Hütte zu geistern scheint. Die Figur des Wanderers erschöpft sich jedoch nicht als Horrormotiv. Der seltsame Alte führt Amira auch durch den unheimlichen Wald, wortkarg und wenig zugänglich, aber voller Sicherheit und Vertrauen in die Natur. Sein Spiegelbild,
Josefs Vater, hat Amira und ihrem Kind ein Märchen vorgeschrieben, eins mit Happy End im Wald. Oder zumindest ein halbes Happy End, denn auch hier steckt der Widerspruch: Zwar hält der Wald beide Figuren gefangen, lässt sie so aber auch erst auf ihr Glück stoßen.
So viel sei ein letztes Mal vorweggenommen: Von einem ungebrochenen Mutter-Kind-Friede wird „Mama“ nicht erzählen. Die Ängste einer Mutterschaft bleiben erhalten und auch die kleine Luisa wird für Amira kein Engel bleiben – ebenso wenig wie Amira ihrem eigenen Körper oder ihrem Mann Josef letztlich voll vertrauen kann.
Jessica Lind findet in ihrem Roman klare, eindringliche Bilder, um die verworrene Gefühlslage einer Frau darzustellen. Traumata werden zu erzählerischen Leerstellen, Widersprüche zu skurrilen Bildern. Und am Ende bleibt eine feministische Botschaft. Mutterschaft ist etwas, das nur die Mutter selbst bewerten kann, dem nur sie sich widmen und dem nur sie entkommen kann. Dass der Roman in dieser Erkundung viele unangenehme, tabuisierte Bereiche streift, macht ihn nur ehrlicher. „Mama“ zeigt vor dem Abenteuer Kind einen tiefen Respekt. Und hat Respekt je einem Menschen geschadet?

Jessica Lind: „Mama“, Kremayr & Scheriau 2021.

Bildquellen

  • Jessica Lind: „Mama“,: Kremayr & Scheriau 2021.
  • Der Wald als Ort einer unheimlichen Schwangerschaft: Foto: zhang kaiyv via pexels