Die Tanzpremiere „Rastlos“ am Staatstheater Hannover als Livestream

Man war schon ganz darauf eingestellt, dass im November wieder alle kulturellen Ereignisse ausfallen. Da kommt überraschend die Nachricht, dass die Premiere „Rastlos“ doch stattfindet. Allerdings ohne Publikum, dafür in einer Aufzeichnung als Live-Stream. Es ist ein Experiment. Kann das funktionieren, ist das eine wirkliche Premiere – und: wieviel bleibt übrig von einem Tanz, der gestreamt wird? Das sind meine Fragen…
Die Aufführung beginnt mit „Moonlight“, einer Choreografie des jungen brasilianischen Gastchoreografen Juliano Nuñes, der eine emotionelle, fließende Tanzsprache zu einem Satz aus Beethovens Hammerklaviersonate entwickelt. Das Mondlicht sieht er als Metapher für seine Arbeit, in der er seine Eindrücke aus der Umwelt spiegelt. In diesem Falle spiegelt er auf eindrucksvolle Weise die Musik Beethovens. Juliano Nuñes vermag mit seinen Gruppenformationen und den darin eingestreuten Soli zu berühren, die Tiefe der Musik auszuloten. Eine gelungene Choreografie, die von den neun Tänzer*innen des Staatsballetts gekonnt und mit Freude dargeboten wurde.
In den Umbaupausen gab es kurze Interviews mit den Gästen und auch mit Marco Goecke, dem Direktor des Staatsballetts, der sich zufrieden und beeindruckt zeigte von den Arbeiten seiner Kollegen. Und wirklich: er hat gute Karten in der Hand mit seinen Kontakten zum Nederlands Dans Theater, für das er auch selbst immer wieder choreografiert und dessen Choreografen er nach Hannover einlädt.
An diesem Abend kommt das Solo „Double You“ von Jiři Kylián, dem Gründer und jahrelangen Chef des NDT, einem der wichtigsten Choreografen unserer Zeit, zur Aufführung. Ursprünglich 1994 für einen 40-jährigen Tänzer am Ende seiner Laufbahn geschaffen, thematisiert es das Leben in seiner Ganzheit, auch mit Verlust und Trauer, eine Gradwanderung durch die eigene Lebenszeit, deren Vergehen von zwei übergroßen goldenen, schwingenden Pendeln symbolisiert wird. Dem noch recht jungen Tänzer Tommy Rous ist die Anspannung anzumerken, diesem großen Wurf gerecht zu werden. Doch er meistert die Aufgabe, diese Choreografie zur Bach Partita Nr. 4 zu tanzen, mit großer Prägnanz und einer Körperpräsenz, die im heute gängigen zeitgenössischen Tanz ihresgleichen sucht.
Als drittes Stück wird „Masculine / Feminine“ des slowakischen Choreografen LukአTimulak – ebenfalls langjähriges Mitglied des NDT-Ensembles – präsentiert. Vor einer stilisierten Appartementkulisse werden kleine Beziehungsszenen dargeboten, die inspiriert sind von John Grays Buch „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“.
Alltägliche Situationen mit einem Schmunzeln aufzugreifen, war die Intention des Choreografen. Doch will der Funke nicht so richtig überspringen: zu einer eher nervigen, uninspirierten Musik mit einer Mischung aus Percussion und E-Bass entsteht eine tänzerische Szenenfolge, die teils durch gelungene körpersprachliche Zitate typisch weiblicher Art und auch durch den geschmeidigen Machismo der Männer beeindruckt, doch insgesamt zu flach, zu illustrativ daher kommt. Der Humor kommt nicht wirklich rüber. Ob das wohl an der Übertragung über den Bildschirm liegt?
Ein Abend mit drei unterschiedlichen Handschriften, der nun noch wochenlang gestreamt wird. Für die Choreografen ist die Premiere jetzt „raus“, für die Tänzer*innen beginnt wieder eine Zeit des Wartens auf den nächsten Auftritt, denn wachsen und reifen können die Tänzer*innen nicht über den Stream – wachsen können sie nur, indem sie live tanzen, tanzen, tanzen …

Bildquellen

  • Das Staatsballett Hannover in „Moonlight“ von Juliano Nuñes: Bettina Stöß