Die geistesgeschichtliche Bedeutung des Isenheimer Altars und „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“

Es gibt Gemälde, die sind mehr als das, etwa die Mona Lisa sowie Malereien von Holbein und Van Eyck. Auch der Isenheimer Altar, geschaffen von Matthias Grünewald im 16. Jahrhundert, gehört in die Reihe der bemerkenswerten Kultobjekte, zudem ist er Weltkulturerbe. Ursprünglich diente er in der Spitalkirche der Antoniter-Ordensgemeinschaft in Isenheim bei Colmar der Heilung Kranker, sollte bei der Erlösung von der Pest und der damals grassierenden Vergiftung „Antoniusfeuer“ helfen, die Leidenden unterstützen und aufbauen. Aber der Künstler Grünewald hat mit seinen Altargemälden, die aus Bibel-Geschichten komponiert sind und diese sichtbar erzählen – etwa „Kreuzigung“ und „Auferstehung Christi“, das „Engelskonzert“, der „Besuch des heiligen Antonius beim heiligen Paulus Eremita“, „Johannes der Täufer mit dem Opferlamm“ und die „Versuchung des heiligen Antonius“ – so ausdrucksstarke visuelle Ereignisse geschaffen, dass sich die Bilder seines mehrteiligen Flügelaltars anscheinend bis in die Gegenwart als komplexe Projektionsfläche für unterschiedliche Gefühls- und Leidenszustände eignen.

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfährt der Isenheimer Altar eine stürmische Rezeption in Bildender Kunst, Literatur, Philosophie und Musik; Lovis Corinth, Erich Heckel, Otto Dix, Max Beckmann, Paul Hindemith sowie zahlreiche Autoren der Literatur der Klassischen Moderne, etwa Joris-Karl Huysmans, Rilke, Ricarda Huch, Canetti, ließen sich von diesem Meisterwerk der Renaissance inspirieren. Ein kürzlich von den Literaturwissenschaftlern Werner Frick und Günter Schnitzler herausgegebenes Buch „Der Isenheimer Altar. Werk und Wirkung“ zeigt all dies mit fächerübergreifenden Beiträgen im Detail auf. Neben der Rezeption und den intermedialen Bezügen nimmt der Band auch die Hintergründe der Entstehung des Altars in den Blick, untersucht seine ikonografischen Besonderheiten sowie die Biographie von Matthias Grünewald (etwa 1475-1528). Laut neuesten Forschungen schuf er den Isenheimer Alter, der die Grausamkeit des Todes und die Erfahrung von Schmerzen darstellt, die jeden Körperteil erfassen können, in den Jahren 1512 bis 1516. Der Band ist eine wahre Fundgrube, höchst spannend zu lesen ist z.B. wie sich Paul Hindemiths Oper „Mathis der Maler“, 1938 uraufgeführt, auf Grünewalds Meisterwerk bezieht

Zuletzt hat Brigitte Kronauer in ihrem Buch „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ einen außergewöhnlichen Dialog mit dem Isenheimer Altar geführt. Es handelt von Personen, für die ein unerwarteter Umbruch zur Hinterfragung der eigenen Biographie führt; die Schlussgeschichte ist hier unter dem Titel „Grünewald“ einem alten Mann gewidmet, einem Literaturprofessor, der nach und nach Figuren und Vorkommnisse seiner Geschichte und in seinem aktuellen Lebensumfeld auf die Bildtafeln von Matthias Grünewald bezieht, sich quasi in ihnen spiegelt. Hier entdeckt er seinen Kummer, Schönes und Schäbiges, „Sünden“ und „Heilige“, während er ein gedankliches Netz von Zusammenhängen und Verweisen webt und Grünewalds Darstellungen detailliert vor Augen führt, darunter die erlösende Auferstehungsszene oder die von Höllenwesen umgebene Heimsuchung des Antonius. Die Figur des alten Mannes macht dem Leser deutlich, dass ein Nachdenken über die eigene Existenz ohne Auseinandersetzung mit der Kunst fast unmöglich ist, ja sinnlos. Die Schmerzen des auf den Tod zugehenden Ich-Erzählers finden ihre Parallele in denen jener Kranken, die einst vor diesem Altar Linderung suchten. Der Dialog mit dem Kunstwerk hilft ihm, seinen Zustand zu erdulden, er ist nicht fromm, sondern glaubt an die Kraft der Kunst, die eben mehr ist als gefälliges Bild und Unterhaltung, nämlich vielmehr einer Künstlerexistenz abgerungen wurde – sie will den Rezipienten herausfordern, nicht einfach nur trösten. Der Isenheimer Altar, der von ungebrochener Anziehung ist, wird momentan restauriert, Besucher können dies während des Museumsbetriebs hautnah verfolgen.

• Werner Frick / Günter Schnitzler (Hg.). Der Isenheimer Altar – Werk und Wirkung. 386 S., zahlr. Abb., Rombach 2019
• Brigitte Kronauer. Das Schöne, Schäbige, Schwankende. Klett-Cotta 2019
• Musée Unterlinden. F – 68000 Colmar. www.musee-unterlinden.com. Mo, Mi bis So 9 bis 18h, Do 10-20h, Di geschlossen

Bildquellen

  • Werner Frick / Günter Schnitzler (Hg.). Der Isenheimer Altar – Werk und Wirkung. 386 S., zahlr. Abb.,: Rombach 2019