Das Theater Freiburg zeigt mit „Der junge Mann/Das Ereignis“ einen Annie Ernaux-Doppelabend

Es ist vertrackt. Wäre die Ich-Erzählerin in „Der junge Mann“, die man getrost mit der Autorin Annie Ernaux gleichsetzen kann, männlich, die Affäre wäre nicht der Rede wert. Nicht nur, ist es gesellschaftlich anerkannt und auch mit Prestige verbunden, wenn Männer mit jüngeren Frauen schlafen, und somit kaum textwürdig, da es nun einmal so furchtbar gewöhnlich ist. Sondern diese Geschichte bräuchte konsequenterweise auch keine Fortsetzung. Doch es ist eine merkwürdige Koinzidenz, dass der besagte junge Mann A. in Rouen in der Nähe des Krankenhauses wohnt, in dem die Autorin während des Studiums nach einer Abtreibung medizinisch versorgt wird. Und im Theater Freiburg folgt man dieser sehr speziellen weiblichen Logik, die bei Ernaux immer auch eine der Klassenfrage ist. Jessica Glause hat mit „Der junge Mann/Das Ereignis“ also einen Doppelabend inszeniert, der mit der 2023 veröffentlichen Erzählung beginnt und dann in die ältere Veröffentlichung übergeht (Bühnenfassung: Jessica Glause und Anna Gojer).
Auf der Bühne des Kleinen Hauses stehen drei Darstellerinnen unterschiedlichen Alters 90 Minuten ganz in Rot, im Kleid, in Rock-Bluse- und Bluse-Hose-Kombination. Anja Schweitzer, Lou Friedmann und Charlotte Will teilen sich den Text und die Figuren, vor allem jedoch stehen sie einander bei. Denn die Umstände, unter denen sich die Erzählerin Anfang der 1960 Jahre illegal einer ungewollten Schwangerschaft entledigt, vereinsamen derart, dass sie zum prägenden Ereignis werden. Doch noch ist Lou Friedmann der junge Geliebte, an dem die Blicke der Außenwelt angesichts seiner gut 30 Jahre älteren Partnerin abprallen. Die Behandlungsliege ist hinter den Fransen, die in Wellen geführt als durchlässiger Vorhang auf die Bühne fallen, vorerst ebenso nur zu ahnen wie die Gitarre, die sich Friedmann greifen wird, um sich selbst zu Dionne Warwicks Song „Don’t make me over“ begleiten (Bühne und Kostüme: Mai Gogishvili). Er wurde 1962 veröffentlicht und war im folgenden Jahr in Frankreich überall zu hören. Er triggert die Frau, die mittlerweile anerkannte Autorin und Intellektuelle ist und erinnert sie an jene Zeit als sie ungewollt schwanger war und ihr damaliger Freund sie im Stich ließ. Überhaupt befindet sich ja die Autorin in einer Zwischenzeit. Ihr Gesicht mag neben dem von A auch jung sein, aber der Sex mit ihm ist „auf diffuse Weise ein Inzest“. Das Kind, das sie nicht ausgetragen hat, wäre in etwa so alt wir ihr junger Liebhaber.
Man kann „Der junge Mann/Das Ereignis“ als ein Fall sozialer Kälte abtun. Doch Anja Schweitzer, Lou Friedmann und Charlotte Will verkörpern diese junge Frau, die von Ärzten zu Bekannten läuft, bis sie die Adresse einer Frau bekommt, die in einer Pariser Mietwohnung Abtreibungen vornimmt. Man kann sich der Intensität, mit der die Pein geschildert wird, kaum entziehen. Und Abtreibungen sind in so vielen Ländern illegal, dass die zeitliche Distanz hier nichts objektiviert. Die Erzählerin wird von diesem Ereignis auf ihre Weiblichkeit, auf ein Ausgeliefertsein heruntergebrochen. Doch schlimmer noch, sie ist nicht in der Lage, ihre Abschlussarbeit zu schreiben. Die Schwangerschaft vereitelt den Bildungsaufstieg und wirft sie damit auf ihre soziale Herkunft zurück. Weibliche Logik, eben. Der Arzt, der ihr letztlich das Leben rettet, wäre anders mit ihr umgegangen, hätte sie sich als Studentin und damit als gleichwertig zu erkennen gegeben, wird er später andeuten. Wie hätte er das auch wissen können. Ein starker Abend.

Weitere Vorstellungen: 16. Februar sowie 8. März, Kleines Haus des Theater Freiburg. theater.freiburg.de

Bildquellen

  • Charlotte Will, Anja Schweitzer, Lou Friedmann: Foto: Britt Schilling