Das Jungfernhäutchen gibt es nicht, die Klitoris dafür schon!

Eine WG-Party, die Nacht ist schon fortgeschritten, einiges an Alkohol getrunken und die Stimmung ausgelassen. Irgendein Gast findet einen Edding und kann sich nicht beherrschen.Die Müslipackungen, die Bananen, der Kaffee – was gerade greifbar ist wird mit einem Penis geschmückt. Eine Gästin beobachtet das Treiben kurz, greift dann entschlossen zu einem weiteren Stift und beginnt ihrerseits Verpackungen zu bemalen. Doch hä? Was soll das sein? Ein Insekt? Ein Dinosaurier? Die Verwirrung ist groß und es spricht sich langsam herum: Leute, das ist eine Klitoris. Das hängt an dem kleinen Knubbel dran den die meisten als Kitzler kennen. Ah, oh, mhm, machen die Mitte bis Ende Zwanzig-Jährigen die sich bis gerade eben noch jugendlich ausgelassen der Penisschmiererei hingegeben haben.
Der Penis, das Phallussymbol ist allgegenwärtig. Einfache Darstellungen – drei unterschiedlich große Bögen – überall zu sehen und von jedem erkannt. Man könnte nun sagen, dass die Klitoris fast so groß ist wie ein Penis, dass sie sogar viel, viel, viel, mehr Nervenenden besitzt und dass, wie auch beim Penis, nur ein kleiner Teil aus dem Körper rausschaut. Das wäre irgendwie anschaulich und gleichzeitig aber auch ein bisschen traurig, weil die Klitoris dann mal wieder nur verstanden wird in Abhängigkeit zu ihrem vermeintlichen Gegenüber – dem Penis.

© JOEL SAGET/AFP via Getty Images

Die Klitoris wird in den deutschen Schulbüchern ziemlich totgeschwiegen. Es gibt ein einziges Biologiebuch, in dem die Klitoris vollständig abgebildet ist, in den anderen taucht sie nicht oder als winzig kleiner Punkt auf, dort wo sich die Venuslippen treffen. Das einzige deutsche Biologiebuch, dass die gesamte Klitoris abbildet, ist im April 2020 erschienen, die Sprecherin von Cornelsen, dem Verlag, der das Werk herausgibt, sagt dazu: „In diesem Band ist die Klitoris fachlich korrekt abgebildet, weil die gesellschaftliche Sicht sich geändert hat. Die didaktisch reduzierte Abbildung ist nicht mehr aktuell“. Jetzt kann man sich natürlich weitere Fragen stellen: Wieso schien eine „didaktisch reduzierte Abbildung“ jemals sinnvoll? Wieso muss die Klitoris versteckt werden während der Penis überall prangt? Wieso soll der Schwellkörper weiterhin bloß, wenn überhaupt, in Büchern für höhere Klassen abgebildet werden?
Béatrice Salviat, Biologielehrerein und Co-Autorin des einzigen Schulbuch Frankreichs, das die Klitoris in ihrer Gesamtheit abbildet, sagt: „Durch eine realitätskonforme Abbildung der Klitoris hoffen wir, dass Mädchen ein besseres Bild von sich selbst bekommen“. Denn jedes vierte Mädchen unter 15 Jahren in Frankreich weiß gar nicht, dass es eine Klitoris hat und 85 % wissen weder wie sie aussieht noch wieso sie existiert (Sautivet 2009).
Und hier sind wir vielleicht beim Kern des Problems angekommen. Der Zweck der Klitoris – wenn man es so will – ist Lust. ‚Weibliche Lust‘ ist in unserer Gesellschaft eher verpönt und wird zur Fortpflanzung in einem patriarchalen System nicht unbedingt benötigt. Wenn die Frau dem Mann ja so oder so ‚beizuliegen‘ hat, ist die Freude an ihrer Sexualität quasi eher die Kirsche auf der Sahnehaube aber keinesfalls der Boden der Torte. Soll den 7. und 8. Klässlerinnen(es geht hier explizit um die weiblich gelesenen Personen) bewusst verschwiegen werden, dass Menschen mit Vulven und Vaginen sexuelle Lust verspüren können? Oder erscheint es einfach als Randthema, als nicht so wichtig, nicht erwähnenswert?
Diese Fragen sind heute so brisant wie sie es vor zwölf Jahren waren, als die französische Sexologin Annie Sautivetihre Daten in Frankreich erhob.
Oliwia Hälterlein, Autorin des Buches „Das Jungfernhäutchen gibt es nicht“ (2020), antwortete uns auf die Frage ob in unserem Bildungswesen in Bezug auf sexuelle Aufklärung viel schief läuft:„Ja, da läuft mehr als nur ein bisschen was schief. Sexuelle Bildung wird häufig mit der Prävention von Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten gleichgesetzt. Im Mittelpunkt steht da natürlich die Heterosexualität als Norm für alle und Kindern werden binäre Geschlechtsidentitäten aufgezwungen. In diesem Narrativ gewinnt natürlich der Penis und die Lust des Penis, denn darum geht es ja auch. Der Penis ejakuliert und damit können Kinder gezeugt werden. Aber wer hat heutzutage denn nur noch Sex um Kinder zu zeugen?“.
In Frankreich werden seit 2016 an Schulen nun 3D Klitorismodelle verwendet um das verschwiegene Organ, die Klitoris, endlich aus ihrer Versenkung zu holen. Zieht Deutschland nach?

Bildquellen

  • Komm, wie du willst: Foto: Adene Sanchez