Im Gespräch: Dr. Fatma Akay-Türker, Islamwissenschaftlerin und Frauenrechtlerin

Dr. Fatma Akay-Türker (*1975) ist promovierte Historikerin und Islamische Religionslehrerin. 2019 wurde sie Frauensprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich (IGGÖ). In der Organisation stieß sie auf patriarchale Strukturen und Misogynie. Enttäuscht wand sich Akay-Türker von der IGGÖ ab und schrieb ein Buch – nicht nur über ihre Erfahrungen, sondern auch über den Koran als Gegenstück zu vielen frauenfeindlichen Traditionen im Islam. Fabian Lutz hat mit Fatma Akay-Türker gesprochen.

Kultur Joker: Frau Akay-Türker, wie erleben Sie den Islam heute? Glauben Sie, dass sich gerade etwas wandelt oder sehen Sie sich mit Ihren Bemühungen allein?

Dr. Fatma Akay-Türker: Es wandelt sich etwas. Es gibt genug Musliminnen und Muslime, vor allem Jugendliche, die vieles hinterfragen und mit der festgefahrenen Theologie nicht einverstanden sind.

Kultur Joker: Trotzdem scheint die Mehrheit der Muslime an frauenfeindlichen Traditionen festhalten zu wollen.

Fatma Akay-Türker: Die überwiegende Mehrheit der Muslime glaubt fest daran, dass die Tradition mit den von Allah und dem Propheten bestimmten Regeln übereinstimmt. Sie glauben, sich aufgrund ihrer religiösen Überzeugung an diese Tradition halten zu müssen.

Kultur Joker: Wer steht hinter diesen patriarchalen Traditionen? In Ihrem Buch beschreiben Sie nicht nur Männer, sondern auch Frauen als Unterstützer*innen des Patriarchats.

Fatma Akay-Türker: Ja, in der muslimischen Gesellschaft sind es nicht allein die meisten Männer, sondern auch die meisten Frauen, die das Patriarchat aufrechterhalten. Allerdings ist der überwiegenden Mehrheit dieser Männer und Frauen nicht bewusst, dass sie eine patriarchale Tradition mit Leben erfüllen. So ist es bei Tausenden von Frauen, die für ihren Platz in der Gemeinschaft ihre eigene Persönlichkeit zurückstellen und ihre Selbstausbeutung bis zum Äußersten treiben. Sie dienen als gute Vorbilder für die muslimische Gesellschaft.

Kultur Joker: Sie ziehen einen deutlichen Trennstrich zwischen dem Koran und einer von vielen Männern und Frauen gelebten frauenfeindlichen Religionspraxis. Sollten diese Menschen einfach den Koran lesen?

Fatma Akay-Türker: Sie sollten den Koran bevorzugen und bei der Auslegung auch die Frauen miteinbeziehen. Neben dem Koran wurden tausende, sogar Millionen von Büchern geschrieben, die unterschiedliche Methoden der Religionspraxis enthalten. Diese von Menschen eingeführten Methoden sehen viele Muslime als „Hauptquellen des Islam“ und stellen sie dem Koran gleich. Ich sehe sie eher als Schatten, der über dem Koran liegt. Hinter diesen Schatten kann man den Koran nicht mehr klar und deutlich sehen.

Kultur Joker: Ist die Frage nach Frauenrechten im Islam auch eine Bildungsfrage? Sie selbst sind als Islamlehrerin tätig gewesen.

Fatma Akay-Türker: Bildung spielt natürlich eine große Rolle, aber welche Bildung? Ich war zwar Islamlehrerin, aber habe anfangs auch die traditionelle Lehre weitergegeben, weil ich sie nie hinterfragt habe. Erst als ich mich mit dem Koran eingehend beschäftigte, wurde mir klar, dass wir eine große Diskrepanz zwischen Koran und Tradition haben.

Kultur Joker: Ein großes Thema in Ihrem Buch ist die Diskussion um das Kopftuch. Sie schreiben, dass von einer unbedingten Pflicht zur Kopftuchbedeckung im Koran nicht die Rede ist. Darf ich fragen: Was bedeutet das Tragen des Kopftuchs für Sie?

Fatma Akay-Türker: Kopftuch trage ich heute traditionell, kulturell und völlig aus freien Stücken. Mit dem Bewusstsein, dass die „Kleidung des Gottesbewusstseins am allerbesten ist“. Mit dem Bewusstsein, dass das Tragen oder Ablegen des Kopftuches an meiner Frömmigkeit nichts ändern würde und dass ich die Freiheit habe, es jederzeit ablegen zu können. Der Prophet Muhammed sagte: „Allah schaut nicht auf euer Äußeres oder euren Reichtum. Er schaut auf eure Herzen und eure Taten.“

Kultur Joker: In Ihrem Buch lassen Sie anklingen, dass auch Männer eine Bedeckung tragen können. Gibt es dafür eine Tradition im Islam?

Fatma Akay-Türker: Ja, in Saudi-Arabien zum Beispiel tragen auch Männer Kopfbedeckung. Mich stört, dass die muslimischen Männer in Europa in ihrem Anzug mit Krawatte oder mit Jeans und T-Shirt über das Kopftuch sprechen. Männer sollen aufhören, Frauen für ihre Machtinteressen auszunutzen und ihnen alles vorzuschreiben. Vielmehr sollten sie sich auf den 30. Vers der Sure An-Nur konzentrieren: „(O Prophet) Sag zu den gläubigen Männern, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham hüten. Das ist besser für sie. Gewiss, Allah ist kundig dessen, was sie machen.“

Kultur Joker: Kann man Ihren Kampf gegen ein Patriarchat mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Kampf gegen männliche Vorherrschaft vergleichen?

Fatma Akay-Türker: Natürlich, denn das Patriarchat gibt es nicht erst seit der Entstehung des Islam, sondern hat eine Tradition, die viel weiter in die Vergangenheit reicht als der Islam.

Kultur Joker: Können Nicht-Muslime Muslime bei diesem Kampf unterstützen oder ist der Kampf gegen das Patriarchat im Islam eher eine Sache, die von Muslimen selbst ausgefochten werden muss?

Fatma Akay-Türker: Das Patriarchat ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Deswegen sollten sich alle Frauen und Männer, die darunter leiden und Gerechtigkeit und Gleichbehandlung wollen, miteinander solidarisieren. Trotzdem liegt es vor allem an uns, den muslimischen Frauen und Männern, mit den patriarchalen Traditionen im Islam zu brechen.

Kultur Joker: Sehen Sie im Islam auch die Möglichkeit einer Entfaltung für Menschen, die sich nicht deutlich einem Geschlecht zuordnen, also weder „Frau“ noch „Mann“ sind?

Fatma Akay-Türker: Gott sagt im Koran, dass Er Frauen und Männer erschaffen hat. Wenn einige anderer Meinung sind, ist es deren eigene Entscheidung. Da im Islam eine völlige Selbstverantwortung herrscht, kann ich für niemanden sprechen.

Kultur Joker: In Ihrem Buch erfährt man, dass der Islam zu seiner Entstehungszeit mit einigen frauenfeindlichen Traditionen brach – er hat sie nicht geschaffen. Können Sie das ausführen?

Fatma Akay-Türker: Der Koran hat alle Missstände für Frauen aufgehoben, darunter die Erbsünde oder die Abwertung der Menstruation. Allerdings haben die Muslime in ihren Traditionen, Kulturen, historischen Erfahrungen und Verhaltensweisen die untergeordnete Stellung der Frau bewahrt. Das Problem liegt also in der muslimischen Gesellschaft, die nicht nach dem Koran, sondern nach der Tradition lebt.

Kultur Joker: Welche Schritte planen Sie, um Ihre Arbeit fortzuführen?

Fatma Akay-Türker: Ohne Lesen, Forschen und Schreiben kann ich sowieso nicht leben. Ich werde meine Recherchen fortsetzen und, wenn ich Anfragen bekomme, auch Vorträge halten. Viele haben mir vorgeschlagen, dass ich ein eigenes Institut oder eine Vereinigung gründen soll. Auf Konsultation lege ich sehr viel Wert und überlege mir, wie ich am besten zu unserer Gesellschaft beitragen kann.

Kultur Joker: Frau Akay-Türker, herzlichen Dank für das Gespräch!

Fatma Akay-Türker, „Nur vor Allah werfe ich mich nieder. Eine Muslimin kämpft gegen das Patriarchat“, edition a 2021.

Bildquellen

  • Dr. Fatma Akay-Türker: Foto: privat