Im Gespräch: Oliwia Hälterlein, Autorin von „Das Jungfernhäutchen gibt es nicht: Ein breitbeiniges Heft“

Als Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Dramaturgin bewegt sich Oliwia Hälterlein an der Schnittstelle zwischen Feminismus und Kunst. Im vergangenen Jahr veröffentlichte sie ihr erstes Buch „Das Jungfernhäutchen gibt es nicht: Ein breitbeiniges Heft“ (Maro Verlag, 2020). Elisabeth Jockers sprach mit ihr.

Kultur Joker: Der Titel deiner Publikation „Das Jungfernhäutchen gibt es nicht“ stellt die Welt mancher Leser*innen auf den Kopf. Noch einmal für uns erklärt: Was ist das Jungfernhäutchen? Und was nicht?

Hälterlein: Der Titel ist auf jeden Fall eine Provokation und soll in erster Linie signalisieren, dass das kulturelle Konstrukt des Jungfernhäutchens nicht existiert. Damit meine ich, dass es kein Häutchen gibt, das anzeigt, ob du Jungfrau bist oder nicht, weder vor der Vagina noch vor dem Penis. Das Problem an diesem Mythos ist, dass das Jungfernhäutchen für viel mehr als nur Jungfräulichkeit steht. Es symbolisiert Reinheit, Unschuld und wird wie ein Beweismittel gegen die Person mit Vagina genutzt: Wenn du beim ersten Mal nicht blutest, kannst du keine Jungfrau gewesen sein.

Kultur Joker: Ist das Jungfernhäutchen also ein kulturelles Konstrukt?

Hälterlein: Natürlich, ich würde sogar sagen, dass es an unserem Körper kaum ein Merkmal gibt, das so ideologisch aufgeladen ist, wie das Jungfernhäutchen. Es wird ein Häutchen erfunden, das beweisen soll, ob eine Person mit Vagina – in der Sprache des Patriarchats: die Frau – noch Jungfrau ist, um sie anhand dessen entsprechend zu bewerten.

Kultur Joker: Und wie kann das in einer medizinisch aufgeklärten Gesellschaft passieren?

Hälterlein: Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema sind mir rund um die Vulva, Vagina und Klitoris viele Leerstellen und Halbwahrheiten aufgefallen, obwohl es schon einige Studien dazu gibt, die anatomische Fakten liefern könnten. Das ist in meinen Augen das Hauptproblem, denn wenn wir eine sexuelle Bildung erhalten würden, die auf anatomischen Fakten basiert, würde es den Mythos und die damit verbundene Auf- und Abwertung weiblicher Sexualität nicht geben.

Kultur Joker: Geschichtlich gesehen gab es eine sexuelle Revolution in den 1960/70er Jahren, seitdem scheint sich aber nicht viel verändert zu haben. Welche Bedeutung hat denn das Jungfernhäutchen auch heute noch für Individuum und Gesellschaft?

Hälterlein: Ich bin absolut der Meinung, dass wir uns noch immer an einem Punkt befinden, an dem sexuelle Bildung nicht adäquat stattfindet. Auch wenn das Jungfernhäutchen im Alltag nicht immer eine existenzielle Rolle spielt, ist der Mythos Jungfernhäutchen Teil des Narrativs, wie wir über Sex sprechen und urteilen. Was mich persönlich stark getroffen hat, ist, dass ich nicht die erste Person bin, die darüber geschrieben hat. Es gibt bereits unzählige Aktivist*innen und Publikationen zu dem Thema. Aber leider ist all das in einer Nische passiert und selten im Mainstream angekommen. So wie unsere Welt gerade funktioniert, sehe ich durch soziale Medien eine Chance, diesen Themen mehr Sichtbarkeit und Nachhaltigkeit zu geben. Dennoch ist es wichtig, dass wir immer wieder darauf hinweisen.

Kultur Joker: In deinem Heft beschreibst du ein Szenario, bei dem du mit gespreizten Beinen vor einem Spiegel sitzt und deinen eigenen Körper entdeckst. Du offenbarst, dass dir ein feministischer Umgang mit deinem eigenen Körper schwer fällt und dir so einiges abverlangt. Mit welchen angelernten Mustern und Emotionen siehst du dich in deinem Alltag konfrontiert?

Hälterlein: Ja, diese Szene zeigt deutlich, dass wir uns selbst nicht neutral begegnen können. Es ist vielmehr so, dass wir durch das Patriarchat, das sich in Sprache und Kultur widerspiegelt, genau gesagt bekommen, was angeblich schön, normal und gesund ist. Dadurch sind wir überhaupt nicht mehr im Stande, uns so zu begreifen, wie wir tatsächlich sind: Individuen. Das ist für mich das perfide daran, denn auch wenn ich mich total viel mit feministischen Theorien beschäftige, bin ich im Kern ein Teil dieser Gesellschaft, der sich nicht frei von äußeren Gefühlen und Zuschreibungen machen kann.

Kultur Joker: Läuft in unserem Bildungswesen, auch oder gerade in Bezug auf sexuelle Aufklärung, viel schief?

Hälterlein: Ja, da läuft mehr als nur ein bisschen was schief. Sexuelle Bildung wird häufig mit der Prävention von Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten gleichgesetzt. Im Mittelpunkt steht da natürlich die Heterosexualität als Norm für alle und Kindern werden binäre Geschlechtsidentitäten aufgezwungen. In diesem Narrativ gewinnt natürlich der Penis und die Lust des Penis, denn darum geht es ja auch. Der Penis ejakuliert und damit können Kinder gezeugt werden. Aber wer hat heutzutage denn nur noch Sex um Kinder zu zeugen?

Kultur Joker: Wie werden diese Inhalte vermittelt? Schulen werden heute ja vermehrt für veraltetes Material kritisiert…

Hälterlein: Wenn ich Unterrichtsmaterialien sichte, dann sehe ich da super erschreckende Dinge. Es gibt keine äußeren Genitalien, nur einen Schlitz mit dem Vermerk „Scheide“. Die gesamte Vulva und das Lustzentrum um die Klitoris werden noch immer komplett verschwiegen und tabuisiert. Da frage ich mich, woher diese Angst vor der Sexualität der Vulva kommt.

Kultur Joker: Das knüpft daran an, dass du in deinem Buch auf die Macht der Sprache eingehst. Was macht das mit mir, wenn mein Intimbereich durch Begriffe wie Schamhügel oder Schamlippen immer wieder zu einem Zentrum der Scham gemacht werden?

Hälterlein: Das Gefühl der Scham ist eine angelernte Empfindung, die wir als Kinder überhaupt nicht spüren und erst mit der Zeit lernen. Kleines Gedankenexperiment: Was wäre, wenn wir damit aufwachsen würden, dass unser Intimbereich ein Ort der Lust ist? Oder wenn wir neutrale und anatomisch korrekte Begriffe verwenden, beispielsweise Vulva, und einen Körper einfach mal Körper sein lassen, ohne Be- und Abwertung.

Kultur Joker: Und gibt’s schon Pläne für ein weiteres Heft?

Hälterlein: Was ich konkret plane sind Workshops für Multiplikator*innen, also Personen im sozialen und pädagogischen Bereich, damit über den Mythos auf unterschiedlichen Ebenen aufgeklärt wird. Und ich gebe Workshops für angehende Mediziner*innen, wo ich ihnen beibringe, was die Vulva ist und wo der Mythos beginnt. Mit dem Ziel, die anatomischen Leerstellen und falschen Angaben in den Medizinbüchern und Unterrichtsmaterialien zu korrigieren.

Kultur Joker: Liebe Oliwia, wir danken Dir für das Gespräch!

Weitere Infos: www.oliwia-ismus.de
„Das Jungfernhäutchen gibt es nicht: Ein breitbeiniges Heft“, Maro Verlag, 2020.
Petitionen: www.change.org/p/keinbockaufmythen-schluss-mit-dem-jungfernh%C3%A4utchen-mythos

www.change.org/p/bzga-r%C3%BCckruf-des-jungfernh%C3%A4utchen-mythos

Bildquellen

  • Oliwia Hälterlein: Foto: MINZ&KUNST