Brauchen wir einen ökologischen Rechtsstaat? Im Gespräch mit dem Ökojuristen Prof. Dr. Klaus Bosselmann, Professor für Umweltrecht an der Universität von Auckland, Neuseeland

Welche Rechte gestehen wir der Natur zu? Dieser Frage geht der Ökojurist Prof. Dr. Klaus Bosselmann seit vielen Jahrzehnten auf den Grund. Im Frühjahr 2024 sprach Karl-Heinz Behr mit Klaus Bosselmann in seinem Büro in Auckland, Neuseeland, über die „Rechte der Natur“, die sozialökologische Transformation, die Treuhandschaft für die Erde, den Zukunftsgipfel der UN in New York und einen Ökologischen Rat in Deutschland, der in der Bedeutung dem Bundesverfassungsgericht gleich käme.
UNIversalis: Seit 2017 ist der Whanganui River und sein ganzes Einzugsgebiet in Neuseeland mit persönlichen Rechten ausgestattet, die den Persönlichkeitsrechten von Menschen entsprechen. Was kann damit für einen Fluss erreicht werden?
Bosselmann: Durch die Anerkennung der Rechtssubjektivität des Flusses wird die Natur ernst genommen. Und zwar nicht aus rein moralischen Gründen, sondern das erste Mal hätten wir dann die juristische Anerkennung einer ökologischen Realität. Welche rechtlichen Auswirkungen dies speziell in Neuseeland haben wird, kann man erst sehen, wenn erste Gerichtsverfahren abgeschlossen sind.
Der Begriff „Rechte der Natur“ impliziert ja, dass wir die Natur nicht nur ernster nehmen. Jetzt bekommt ein Fluss eine eigene Stimme. Die Stimme wird von Menschen artikuliert, die auch wirklich im Namen des Flusses sprechen. Das Interesse des Flusses kann ja auch zu einem gewissen Teil naturwissenschaftlich nachgewiesen werden. Das ist die praktische Seite. Aber es gibt ja noch die andere Seite: nämlich die, dass wir als Menschen, besonders als Leute in Entscheidungsfunktionen, verstehen, dass jede Entscheidung, die wir treffen entweder zukunftsfähig oder zukunftsuntauglich ist falls man die Zukunft so definiert, dass die ökologische Integrität nicht gefährdet werden darf.
UNIversalis: Was heißt „Rechte der Natur“?
Bosselmann: Es gibt ein Riesenspektrum, was mit dem juristischen Begriff „Rechte der Natur“ gemeint sein kann. Rechte passen ins Bild der westlichen Rechtstradition, die sich auf individuellen Rechten gründet. Ich selbst habe allerdings noch nie von den `Rechten der Natur´ sondern immer von den `Eigenrechten der Natur´ gesprochen. Die Natur hat einen Wert in sich selbst und ist nicht abhängig von der Zuweisung von Rechten durch den Menschen. Bei „Rechten der Natur“ ist immer die Gefahr, dass sie entweder als geniales Instrument idealisiert werden oder in der Praxis abgetan werden und der ökologische Zusammenhang verloren geht. Deshalb sprechen wir auch im deutschen `Netzwerk Rechte der Natur´ von Würde und Eigenwert der Natur.
UNIversalis: Also eher Vorsicht beim Begriff „Rechte der Natur“?
Bosselmann: Aus umweltethischer Sicht ist das Konzept der `Rechte der Natur´ sinnvoll, soweit es der Überwindung westlicher Anthropozentrik dient. Im Mittelpunkt sollte nicht der Mensch, schon gar nicht die westlich individualisierte Person stehen, sondern die Mensch-Naturbeziehung, so wie sie nach wie vor in vielen indigenen Kulturen verstanden wird, aber auch zur vorindustriellen westlichen Kulturgeschichte gehört. Tatsächlich hilft die Rechtssubjektivität vielleicht einzelnen Naturobjekten an gewissen Orten. Aber unser Grundproblem, unsere Lebensfähigkeit als Menschen, ist durch die besondere Rechtsstellung ökologischer Entitäten nicht automatisch verbessert. Für die notwendige sozial-ökologische Transformation können wir nicht bei der Anerkennung von `Rechten der Natur´, etwa im Naturschutzgesetz oder Grundgesetz, stehen bleiben, sondern müssen einen ökologischen Rechtsstaat oder ein ökologisches Grundgesetz einführen. Die Erde ist im Anthropozän kein sicheres Zuhause mehr für Menschen. Was natürlich nicht heißt, dass das Leben sich nicht weiterentwickeln kann. Aber Menschen werden möglicherweise da nicht mehr vorkommen.
UNIversalis: Sie haben 1992 ihr Buch „Im Namen der Natur – Der Weg zum ökologischen Rechtsstaat“ veröffentlicht. Was hat sich seither geändert?
Bosselmann: Wir haben einige gute Fortschritte gemacht. Aber im Wesentlichen ist das Ökologiethema immer noch nicht in seiner Bedeutung erkannt worden. Im Gegenteil: es ist im Zuge des Neoliberalismus noch viel stärker an den Rand gedrückt worden, als wir damals das hätten vorhersehen können. In den achtziger, neunziger Jahren haben wir Ökojuristen versucht, klar zu machen, wenn wir nicht jetzt handeln, am Beginn der Klimakrise, dann wird es irgendwann mal zu spät sein. Und das betrifft nicht nur die Klimakrise, sondern die Grundsatzfrage Ökologie.
UNIversalis: Sie waren Mitglied der deutschen Delegation beim ersten großen Umweltgipfel 1992 in Rio. Was hatte er gebracht?
Bosselmann: In Rio wurden die Grundlagen des Umweltvölkerrechts gelegt. Klimaschutz wurde zum Thema gemacht und in der Grundsatzerklärung der Konferenz heißt es in Artikel 7, dass die Staaten sich darauf verpflichten, zusammen zu arbeiten, damit die Integrität der ökologischen Systeme dieser Erde erhalten bleibt. Das Ziel aller Gesetzgebung soll die Erhaltung der Integrität dieser ökologischen Systeme sein, von denen wir Menschen natürlich ein Teil sind. Und dies wurde in nicht weniger als 27 internationalen Umweltabkommen wiederholt, zuletzt im Pariser Klimaschutzabkommen 2015. Papier ist geduldig aber die Erklärung ist theoretisch rechtsverpflichtend, muss also umgesetzt werden! Aber die Umsetzung selber liegt in unserer Welt in der Hand der 196 Regierungen von Einzelstaaten.
UNIversalis: Sie leben seit 30 Jahren in Neuseeland. Was ist in ökologischer Hinsicht das Besondere an diesem Inselstaat im Pazifik?
Bosselmann: Neuseeland ist ein westliches Land, das ganz besonders beeinflusst ist von der indigenen Kultur der Maori. Diese Begegnung zweier unterschiedlicher Kulturen hatte mich immer fasziniert. Und auch heute noch ist die Kolonialgeschichte präsent und manifestiert sich täglich.
Aber Neuseeland war auch das erste Land mit einem, in Deutschland würde man Umweltgesetzbuch sagen. Das gibt es in Deutschland und auch in vielen anderen Ländern bis heute nicht. In dieser Art Umweltgesetzbuch werden alle ressourcensichernden und ressourcengefährdenden Maßnahmen, also praktisch alle Aktivitäten in der Gesellschaft erfasst. Neuseeland war auch das erste Land, das den Gedanken der nachhaltigen Entwicklung kodifiziert hat. Die UN haben mit ihrem Bericht zu Umwelt und Entwicklung praktisch eine Antwort auf die Wachstumsfrage gegeben. Neuseeland hat das zum Anlass genommen, ihre eigene Ressourcengesetzgebung gründlich zu reformieren und den „Resource Management Act“ verabschiedet, der im Art. 5 sein Ziel sehr klar formuliert: Menschen können hier im Land tun und lassen, was sie wollen, vorausgesetzt sie gefährden nicht das Wohlergehen und die Funktion der Ökosysteme.
UNIversalis: Welche Einflüsse hatte dabei die indigene Kultur?
Bosselmann: Katiakitanga ist das Maori-Wort für Treuhandschaft. Und als Treuhänder haben wir Verantwortung für die Natur. Wir können das nicht trennen und uns gar nicht anders definieren als Mensch. Dieser Gedanke, der fest in der indigenen Kultur verankert ist, spielt eine wichtige Rolle in Neuseeland. Ich schätze die damit verbundene ökologische Weisheit, die in den indigenen Kulturen noch weitgehend vorhanden ist. Treuhand ist ein sehr alter Begriff. Wer immer im Namen von jemandem spricht, der sich nicht selber artikulieren kann, ist ein Treuhänder. Und das ist in allen Rechtskulturen so. Eltern wissen sofort, was damit gemeint ist. Treuhandschaft gehört aus meiner Sicht zu den Grundregeln des sozialen Miteinanders.
UNIversalis: Auch in den Haager Grundsätzen, die Sie zusammen mit 92 Gruppen der Zivilgesellschaft anlässlich der Feier des 70. Jahrestages der Menschenrechte 2018 formuliert haben, ist von „Treuhandschaft der Erde“ die Rede.
Bosselmann: Wir als Menschen sind Mitglieder der Gemeinschaft des Lebens und daraus resultieren alle Rechte und Pflichten, die wir als Menschen untereinander haben. Ein wichtiger Gedanke ist: Rechte, dieses westliche Konstrukt, machen nur Sinn, wenn sie auch umgesetzt werden können im Sinne einer rechtlichen Verpflichtung von Staaten aber auch Mitmenschen. Nichtwestliche Kulturen betonen Pflichten viel stärker als Rechte. Wir setzen nun Rechte und Pflichten in Beziehung und sagen, das alles ist Resultat von unserer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft des Lebens. Daraus folgt aber auch eine besondere Verpflichtung gegenüber dem Leben insgesamt ausgedrückt im Prinzip der Erd-Treuhandschaft.
UNIversalis: Sie haben an der Vorbereitung des Zukunftsgipfels der UN in New York Ende September 2024 gearbeitet. Was sollte dort erreicht werden?
Bosselmann: Bei diesem Zukunftsgipfel ging es um die Überwindung der Diskriminierungen gehen. Und diskriminierte Gruppen, das sind die Armen, die Frauen, die Kinder und zukünftige Generationen! Und gemeinsam ist allen: sie wollen leben in einer gerechten aber eben noch vorhandenen Zukunft. Die Erdtreuhandschaft, earth trusteeship, hat die UN sehr lange bewegt. Was jetzt schon klar ist: Es wird ein UN Envoy for Future Generations eingesetzt, also eine Art Treuhänder für künftige Generationen, mit Büro und Struktur dahinter. Und wir wollen erreichen, dass in dessen Jobbeschreibung auch der Gedanke der Verantwortung gegenüber der Erde drinsteht.
UNIversalis: Was wäre in Deutschland zu tun?
Bosselmann: Wir hatten schon in den 90er Jahren in Deutschland die Einrichtung eines Ökologischen Rates vorgeschlagen, was leider in der Zeit nach der Wende und dem erstarkenden Neoliberalismus nicht weiter verfolgt wurde. Jetzt arbeiten wir, wir das sind fünf Professoren wie der Philosoph Tilo Wesche, der gerade bei mir auf Waiheke Island zu Besuch ist, der Jurist Jens Kersten aus München und andere, an einem sogenannten Professorenentwurf, in dem dieser Vorschlag aktualisiert werden soll: Der Ökologische Rat hätte Vetorecht gegenüber allen Entscheidungen im Parlament, die nicht ökologieverträglich sind. Repräsentiert würde der Rat von qualifizierten Leuten, die sich bewerben und demokratisch gewählt werden, ähnlich wie die Richter des Bundesverfassungsgerichtes. Die Funktion ist ja auch ähnlich wie die des Gerichtes: Das Bundesverfassungsgericht ist Hüter der Verfassung, der Ökologische Rat wäre Hüter der Ökologie. Das ist ja nicht undemokratisch. Ganz im Gegenteil.
UNIversalis: Reicht der Grundgesetz-Artikel 20a „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung“ nicht aus?
Bosselmann: Ja, das hab ich auch mal geglaubt. Und das Bundesverfassungsgericht hat jetzt auch gesagt, der Entscheidungsspielraum künftiger Generationen kann auf Null schrumpfen, wenn jetzt schon vorhersehbar ist, dass bestimmte Ziele nicht erreicht werden. Und von daher muss man den 20a nicht unbedingt im Wortlaut verändern sondern einfach besser interpretieren.
Aber worauf ich hinaus will ist, dass das Ökologiethema, das man im Whanganuigebiet näher studieren kann, nur dann Chancen haben wird sich gegenüber dieser Wachstumskultur und gegen diese naturzerstörerische, auch menschenzerstörerische Wirtschaft durchzusetzen, wenn es sich auf allen Ebenen artikuliert. Wenn man in Deutschland daran denkt, Tieren oder Flüssen Rechte zu geben, der Loisach zum Beispiel, dann hat das lediglich vor allem Symbolwirkungen, um breitere Diskussionen auszulösen.
UNIversalis: Was erwarten Sie in Zukunft?
Bosselmann: Die aktuelle Polarisierung ist natürlich keine gute Entwicklung. Historisch hat sich jede grundlegende Veränderung in der Welt immer angekündigt durch sogenannte Paradigmenwechsel. Und wir scheinen heute mit der sozialökologischen Transformation in der dritten Phase eines Paradigmenwechsels zu sein, in der die Kontroverse zwischen einer grundlegenden Ökologisierung und ihrem genauen Gegenteil ausgetragen wird. Das ist die kritische Phase wo die Leute merken, Klimakrise bedeutet ja, nicht mehr Auto fahren dürfen, nicht mehr fliegen, das Haus nicht mehr heizen können und solche Sachen. Und das wird noch stärker werden. Die folgende vierte Phase wäre dann die Umsetzung des neuen Paradigmas, der notwendigen sozialökologischen Transformation. Ob und wie das kommt, kann man natürlich nicht vorhersagen. Vielleicht sind es ein paar kleine Gebiete auf der Welt, vielleicht Neuseeland, wo die wesentlichen Bedingungen dafür erfüllt werden. Das Thema lässt uns jedenfalls nicht in Ruhe, es bleibt uns erhalten. Auch unter dem Stichwort „Rechte der Natur“.
UNIversalis: Wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.
Bildquellen
- Prof. Dr. Klaus Bosselmann: © privat
- Seit 2017 ist der Whanganui River und sein Einzugsgebiet mit persönlichen Rechten ausgestatttet, die den Persönlichkeitsrechten von Menschen entsprechen: © Karl-Heinz Behr