Zwei Schwestern auf der Suche nach einer besseren Welt: Im Gespräch mit Julia und Lisa Hermes, Abenteurerinnen und Vortragende auf dem 21. Mundologia-Festival in Freiburg
Vier Jahre lang sind Julia und Lisa Hermes auf der Suche nach einer nachhaltigeren und solidarischeren Art zu leben per Anhalter, Segelboot, Kanu, zu Fuß und mit dem Fahrrad auf Reisen gewesen. Dabei lernten sie Menschen in bunten Gemeinschaften und indigene Widerstandsbewegungen kennen. Am 2. Februar 2025 werden sie auf dem 21. Mundologia-Festival im Konzerthaus Freiburg ihren Vortrag „Suche nach Utopia“ zeigen. Im Interview berichten sie von den Herausforderungen und Begegnungen unterwegs.
UNIversalis: Ihr interessiert euch für alternative Formen des Zusammenlebens. Wo und wie seid ihr aufgewachsen?
Lisa: In einem kleinen Dorf in der Eifel. Unsere Eltern haben uns als Kinder im Wald spielen lassen, wir hatten viel Freiheit. Manchmal wurden sie von anderen Eltern deshalb schief angeguckt, aber das hat sie nie gestört. Unsere Großeltern, Tanten und Onkel haben auch dort gelebt, zwar nicht alle auf einem Hof, aber alle im selben Ort. Es war das Aufwachsen in einer Großfamilie und das hat uns einen guten Halt gegeben. Im Teenie-Alter fiel uns dann aber irgendwann die Decke auf den Kopf. Ich bin mit 16 nach Köln gezogen und mit 19 auf meine erste Weltreise aufgebrochen.
Julia: Wir wollten über den Tellerrand schauen und wissen, wie die Welt aussieht. Ich bin mit 18 für zwei Jahre nach Italien gezogen und danach habe ich in Leipzig studiert.
UNIversalis: Auf eigene Faust die Umgebung zu erkunden, das dürfen Kinder heute laut einer britischen Studie im Schnitt erst mit elf Jahren. Eure Entdeckerlust wurde nicht gebremst.
Lisa: Unsere Eltern haben uns dazu motiviert keine Angst zu haben, sondern einen Umgang mit den Herausforderungen zu finden. Statt vor dem Glatteis zu warnen, hat unser Vater uns beigebracht, wie wir bei Schnee und Eis sicher Autofahren. Das stärkt das Selbstbewusstsein. Und so waren wir dann auch unterwegs: Wir haben die Angst als Freundin gesehen, konnten auch in gefährlichen Situationen Ruhe bewahren und Lösungen finden.
UNIversalis: Eine große Reise zu machen, ist heute nicht mehr so ungewöhnlich. Ihr habt sie aber mit der Idee verknüpft, besondere Gemeinschaften kennenzulernen. War das von vornherein eure Motivation?
Julia: Das Thema hat uns bereits länger beschäftigt. Einerseits auf der persönlichen Ebene, weil wir mit unserem Freundeskreis von einem Leben in Gemeinschaft geträumt haben, andererseits auf gesellschaftlicher Ebene: Mich hat interessiert, wie ein selbstorganisiertes Leben gemeinschaftlich von den Menschen gestaltet werden kann und welche Möglichkeiten es gibt, den Kapitalismus zu überwinden.
Lisa: Ich erinnere mich noch an die Diskussion vor der Reise in unserer Freundesgruppe. Uns hat immer sehr stark die Suche nach einer Alternative zu der gegenwärtigen Situation angetrieben. Uns war bewusst, dass es so, wie es gerade läuft, nicht weitergehen kann. Und die große Frage war, wenn nicht so, wie dann?
UNIversalis: Wie sah euer Reiseplan aus?

Julia: Anfangs hatten wir drei Jahre angesetzt. Wir wollten Richtung Lateinamerika, anschießend durch Nordamerika bis nach Alaska, die Beringsee überqueren, nach Sibirien und dann von Osten kommend zurück nach Deutschland. Schlussendlich waren wir schon drei Jahre unterwegs, als wir in Mexiko ankamen.
Lisa: Dort haben sich dann andere Lebensperspektiven eröffnet. Aber wir spielen immer noch mit dem Gedanken, die Reise irgendwann fortzusetzen und den Kreis zu schließen.
UNIversalis: Euer erstes Etappenziel lag in Frankreich. Was habt ihr da erlebt?
Lisa: Wir waren in Notre-Dame-des-Landes, in der ZAD – Zone a Défendre, was soviel bedeutet wie „das zu verteidigende Gebiet“. Da lebten Menschen, die den Bau eines neuen Flughafens verhindert haben. Jahrzehntelang gab es lokalen Widerstand. Die Leute sind mit einer gemeinsamen Vision zusammengekommen, für eine bessere Zukunft. Sie verteidigten etwas und bauten gleichzeitig alternative Strukturen auf.
Julia: Das fanden wir sehr inspirierend: Nicht nur gegen irgendwas sein, sondern Alternativen aufbauen. Da ist eine kleine Parallelwelt innerhalb von Frankreich entstanden, mit eigenem Radiosender, eigener Bäckerei, einem großen Gemüsegarten und einem Non-Marché, wo sich die Menschen das, was sie brauchen, holen können, ohne dass nach einer Markt- oder Tauschlogik irgendwas zurückgefordert wird. Es ist sehr spannend zu sehen, was möglich ist, wenn Menschen sich gemeinsam selbstbestimmt organisieren können.
UNIversalis: Ihr seid weiter bis ans Meer getrampt und anschließend auch per Anhalter über den Atlantik.
Julia: Wir sind zunächst nach Spanien und dann nach Las Palmas auf die Kanaren, dort haben wir eine Mitfahrgelegenheit über den Atlantik gesucht. Eine französische Familie hat uns mit nach Kap Verde genommen. Weiter ging es mit einem schwedischen Segler nach Trinidad und Tobago.
UNIversalis: Wie lange ist man da auf dem Atlantik unterwegs?
Lisa: Die längste Zeit am Stück, von Kap Verde bis in die Karibik, waren wir 21 Tage auf dem Ozean. Die ganze Bootstramperei von Gibraltar über die Kanaren nach Kap Verde bis nach Trinidad und Tobago dauerte ungefähr zwei Monate.
UNIversalis: Wie war die Zeit auf dem Meer? Wird es irgendwann eintönig?
Julia: Es gab Höhen und Tiefen. Nach einer gewissen Zeit war es extrem monoton, und man wusste nicht mehr, was man mit der Zeit anfangen soll. Und gleichzeitig war es eine schöne Erfahrung, umgeben vom blauen Meer und blauen Himmel. Diese Stille und Einsamkeit hatte etwas Melancholisches. Man war mit den Elementen verbunden, alles war intensiv. Fast wie eine Meditation. Der Körper hatte permanent diese Bewegungen der Wellen. Ich habe mich immer ein bisschen schlecht im Magen gefühlt. Aber dennoch, wenn ich es noch nie gemacht hätte, würde ich es noch mal machen.
Lisa: Die Naturerfahrung war gewaltig und die soziale Erfahrung herausfordernd. Wir waren fünf Erwachsene, die für drei Wochen auf einem kleinen Boot lebten, das nur für vier Leute ausgelegt ist. Nachts sind wir durch die Betten rotiert. Einer war immer zur Nachtschicht an Deck und hat den Horizont nach Schiffen abgesucht. Nach vier Stunden war der Nächste dran und man ist in dessen Bett geklettert, so haben wir rotiert.
UNIversalis: Immer muss einer Wache halten, um zu verhindern, dass man mit anderen Schiffen kollidiert?
Julia: Nicht nur nachts, eigentlich 24 Stunden. Irgendwer war immer oben und hat nach Schiffen Ausschau gehalten.
UNIversalis: Ist viel Verkehr auf dem Meer?
Julia: Auf dem AIS, das ist ein Funksystem, auf dem unter anderem GPS Daten von anderen Schiffen zu sehen sind, schien es so. Aber der Atlantik ist so gigantisch groß, da verliert sich das. Wir haben nur einmal einen Frachter gesehen und das war dann das Erlebnis des Tages.
UNIversalis: Als ihr in der Karibik angekommen seid, ging es zunächst Richtung Süden?
Julia: Wir sind in Venezuela aufs Festland gekommen und weiter nach Kolumbien gereist, wo wir auch bei einer Gemeinschaft waren. In Ecuador haben wir uns ein Kanu gekauft und sind auf dem Amazonas gepaddelt. Von Manaus ging es dann in den Süden.
UNIversalis: Was waren das für Gemeinschaften, die ihr in Mittel- oder Südamerika kennengelernt habt?
Lisa: In Chile haben wir eine deutsche Aussteigerin besucht, die sich mit ihrer Familie für ein Leben in der Wildnis Patagoniens entschieden hat. Weiter im Norden waren wir bei Aluantu, einer Art Liebesgemeinschaft. In Buenos Aires in Argentinien haben wir eine von StudentInnen gegründete Gemeinschaft kennengelernt, die unter anderem mit Permakultur, erneuerbaren Energien und nachhaltiger Bauweise experimentiert. In Mexiko waren wir bei indigenen Widerstandsbewegungen. In der im Dschungel gelegenen Gemeinschaft von CODEDI, einem Komitee zur Verteidigung der Rechte indigener Völker, durften wir einen Einblick in den Alltag der dort lebenden Menschen bekommen. Die Zapatistas, eine revolutionäre indigene Bewegung, haben wir in den Bergen von Chiapas näher kennen gelernt.
UNIversalis: Was habt ihr bei den indigenen Widerstandsbewegungen erfahren?
Julia: Vor der Reise war mir nicht bewusst, dass es alleine in Mexiko 68 verschiedene indigene Völker und 62 indigene Sprachen gibt. Diese Gruppen werden nach wie vor von staatlicher Seite unterdrückt, misshandelt und ausgebeutet. Wir haben unzählige Geschichten von Menschen gehört, die gewaltsam aus ihren Gebieten vertrieben wurden, damit dort Rohstoffe abgebaut oder Megaprojekte wie Staudämme oder Bahntrassen gebaut werden können. Es war inspirierend zu sehen, wie sich die Gruppen gegen diese Ungerechtigkeit organisiert und in dem Kampf ein neues Selbstbewusstsein, eine neue Identität gewonnen haben.
UNIversalis: Wie kann man sich das Leben dort vorstellen? Was habt ihr den ganzen Tag gemacht?
Lisa: Im autonomen Bildungszentrum von CODEDI haben wir mit den Menschen ihren Tagesablauf gelebt. Gegen fünf Uhr sind wir aufgestanden und haben gefrühstückt, meistens Tortillas und Bohnen. Vormittags fand Unterricht statt, anschließend gab es verschiedene Gemeinschaftsarbeiten, z.B. beim Kaffee- und Kakaoanbau oder beim Kochen.
UNIversalis: Das heißt, ihr habt mitgearbeitet und hattet dafür Unterkunft und Essen frei?
Julia: Ja, das war in allen Gemeinschaften so, die wir während der Reise besucht haben. Wir waren direkt integriert, keine außenstehenden Beobachterinnen, sondern richtig mit dabei.
UNIversalis: Woher habt ihr gewusst, wo diese Gemeinschaften zu finden sind?
Lisa: Sie sind untereinander vernetzt. Und auch beim Trampen haben wir von ihnen erfahren. Wenn man einen Fokus hat, tauchen fast automatisch von überall her die Informationen auf.
UNIversalis: Ihr seid mit dem Kanu im Amazonasgebiet unterwegs gewesen. Alleine?
Lisa: Ja. Wir hatten uns ein Holzkanu gekauft und sind in der ecuadorianischen Kleinstadt Coca gestartet. Wir wollten eigentlich 3000 Kilometer nach Manaus paddeln. An der Grenze zu Brasilien, nach 1500 Kilometern, ist unser Boot jedoch konfisziert worden.
UNIversalis: Das traut sich nicht jeder zu. Hattet ihr keine Bedenken?
Lisa: Wir haben uns nicht blauäugig reingestürzt, sondern überlegt, wie wir die Gefahren eindämmen können. Wir sind von Gemeinschaft zu Gemeinschaft gefahren, haben mit den Leuten den nächsten Streckenabschnitt besprochen, Kartenmaterial besorgt und uns eingängig damit beschäftigt.
Julia: Dadurch, dass wir die ganze Zeit über sehr nah an den Menschen dran waren, hatten wir ein gutes Gefühl für die Regionen und auch für Gefahren. In Mexiko zum Beispiel wären wir nie auf die Idee gekommen, unsere Rucksäcke zu packen und in die Berge zu gehen, weil wir wussten, dass es da Narcos und den Drogenhandel gibt und man Gefahr läuft zu verschwinden. In Nord-Mexiko hätten wir niemals draußen im Zelt geschlafen. In Argentinien dagegen haben wir zu den Trucker-Fahrern gesagt, hier steigen wir aus, gute Nacht. Sie sind weitergefahren und wir hatten überhaupt keine Angst.
Lisa: Auf dem Amazonas Richtung brasilianische Grenze haben uns immer mehr Leute gesagt, dass es gefährlich ist, es seien Piratenüberfälle gemeldet worden. Wir waren drei Tage am Überlegen, ob wir weiterpaddeln und dann wurde unser Boot konfisziert. Auch zuvor gab es bei manchen Abschnitten die Empfehlung im Konvoi zu fahren, was wir dann auch gemacht haben.
UNIversalis: Hattet ihr auch Begegnungen mit Tieren?
Lisa: Entlang der Hauptströme selten, die sind breit, das Ufer ist weit weg, das Wasser trüb. Aber wenn wir in kleinere Seitenarme gepaddelt sind, haben wir Otter gesehen, Kaimane, Piranhas.
Julia: Einmal hat sich ein riesiger blauer Schmetterling auf mein Buch gesetzt. Unvergesslich der Moment! Es gab auch Flussdelfine, die sehen aus wie rosarote Ferkel.
Lisa: Ja, eine Mischung aus Schweinchen und Delfin.
UNIversalis: Ihr seid sehr nachhaltig gereist. Habt ihr davon etwas in eurem Alltag zurück in Deutschland beibehalten?
Julia: Wir leben zusammen zur Miete in einem baubiologischen Haus und versuchen in unserem Garten viel selber anzubauen. Von umliegenden Biobauern bekommen wir Gemüse und Getreide für unser Brot. Wir geben nach wie vor wenig Geld aus. Das war auch vor der Reise so, auch vorher haben wir containert und Second-Hand-Kleidung gekauft.
Lisa: Anfangs dachte ich, wenn wir drei Jahre lang in Gemeinschaften leben, habe ich anschließend vielleicht genug davon. Aber das Gegenteil war der Fall. Je länger wir unterwegs gewesen sind und auch die Auswirkungen der heutigen Wirtschaft gesehen haben, z.B. die Ausbeutung des Amazonas, hat das in mir die Überzeugung gestärkt, dass es unmöglich ist, die Zukunft nicht gemeinschaftlich zu denken.
Julia: Ich finde ein Netzwerk mit der Nachbarschaft schön, wo man sich austauscht, Dinge teilt. Der eine produziert z.B. Getreide und die anderen haben Gemüse und dann tauscht man untereinander. Es braucht auch nicht jeder einen eigenen Rasenmäher.
UNIversalis: Was erwartet das Publikum bei eurem Live-Vortrag am 2. Februar im Konzerthaus Freiburg?
Beide: Wir laden euch ein, mit uns auf eine Reise voller Überraschungen zu gehen. Trampend, laufend, segelnd, radelnd sind wir bis nach Mexiko gereist und haben auf dem Weg Gemeinschaften erlebt, deren Geschichten wir mit euch teilen wollen. Wir möchten dazu inspirieren, neu zu denken, was möglich ist, wenn wir tatsächlich entscheiden, wie wir leben wollen.
Mehr Infos, Tickets und der Trailer zum Vortrag „Suche nach Utopia“ sowie das weitere Programm des 21. Mundologia-Festivals sind unter www.mundologia.de zu finden.
Bildquellen
- Am 2. Februar 2025 zeigen die Schwestern auf dem 21. Mundologia-Festival im Konzerthaus Freiburg ihren Vortrag „Suche nach Utopia“: © Mundologia Festival
- Am 2. Februar 2025 zeigen die Schwestern auf dem 21. Mundologia-Festival im Konzerthaus Freiburg ihren Vortrag „Suche nach Utopia“: © Mundologia Festival