Vorbote der Moderne: Das Lenbachhaus in München zeigt in einer Kooperation mit der Tate Britain Arbeiten von Joseph Mallord William Turner

Der Zugang zur Ausstellung Turner im Kunstbau München führt über eine Rolltreppe in Richtung U-Bahnstation Königsplatz. Direkt über dieser zeigt das Lenbachhaus auf einer Länge von 110 und einer Breite von 14 Metern seit 1995 Sonderausstellungen. 18 Betonpfeiler teilen die fünf Meter hohe Fläche. Ein offenes Schienensystem an der Decke erlaubt komplexe Lichtinstallationen. Genügen diese auch für Turner, den Maler des Lichts und der Farbe? Turner „Three Horizons“, vom Lenbachhaus München wird in Kooperation mit der Tate Britain, London organisiert. Die chronologisch aufgebaute Präsentation zeigt auf der linken Seite die von Turner über Jahre in der Royal Academie und in seiner früh eröffneten Privatgalerie präsentierten Bilder. Die rechte reiht Arbeiten aneinander, die Turner nie in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Darunter vermutlich unvollendete. Die Ausstellung ist chronologisch aufgebaut und fragt nach dem spezifischen Werdegang des Künstlers, der 1775 -1851 lebte, sich bekannte Maler wie Claude Lorrain und Nicolas Poussin aus dem 17. Jahrhundert zum Vorbild nahm und seine Werke gezielt präsentierte. Der Titel der Ausstellung „Three Horizons“ verweist auf das hochformatige Bild „Three Seascapes“ (Drei Meerlandschaften) von ca 1827, in dem, je nach Blickwinkel, drei oder gar vier Ansichten des Meeres ineinander übergehen.
Mit Druckgrafiken, die unter der Rotunde zu sehen sind wurde Turner in ganz Europa bekannt. Diagramme aus seiner dreißigjährigen Lehrtätigkeit für Perspektive laden zum genauen Lesen ein, Skizzenbücher, Aquarelle und Ölskizzen in den Schaukästen des Raumes zeigen seine künstlerischen Vorbilder. Früh fiel er mit Architektur und Landschaftszeichnungen auf. Bereits mit 14 Jahren erhielt er ein Stipendium für die Royal Academy of Arts in London. Doch wandte er sich nicht der damals hochangesehenen Historienmalerei zu, sondern erarbeitete sich selbständig Kenntnisse in der Landschaftsmalerei. Am intensivsten setzte er sich mit der Natur auseinander. Dazu studierte er nicht nur die britische Landschaft, sondern bereiste ab 1802 ganz Europa. Er fertigte unermesslich viele Skizzen an, die er im Atelier in Öl oder Aquarell umsetzte. Unterwegs führte er einen Reiseaquarellkasten mit auflösbaren Aquarelltabletten mit sich. 1807 wurde er zum Professor für Perspektive ernannt.

Joseph Mallord William Turner, Küstenlandschaft und Gebäude, Südfrankreich oder Süditalien, ca. 1834, Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 © Photo / Foto Tate

Unter den rund 40 gezeigten Werken finden sich neben berühmten wie „Entrance oft the Meuse“ (Mündung der Maas) von 1819, „The Fighting Temeraire“ (Die letzte Fahrt der Temeraire) von 1838, und „Snow Storm“ (Schneesturm) von 1842, einer der „großartigsten Darstellungen von Meeresbewegungen“ wie der englische Kritiker John Ruskin schrieb. Zerschellt 1819 noch ein Segelschiff auf der Sandbank so ist es 23 Jahre später ein Dampfschiff. „Ich habe nicht das gemalt, um verstanden zu werden“, erklärte er einem Atelierbesucher, „sondern ich wollte zeigen, wie eine solche Szene wirklich ist“. Dabei steht die Darstellung von Wetter und Atmosphäre im Mittelpunkt. Um Geschwindigkeit malen zu können, soll er den Kopf aus dem fahrenden Zug gehalten und für die zweidimensionale Umsetzung von Sturm, sich am Schiffsmast festbinden haben lassen. So war er ein Seismograph der Zeit, der sich für die Naturwissenschaften und die rasante Entwicklung der Technik interessierte. Die Rezeption seines Werks war schon zu Lebzeiten widersprüchlich. Turners Radikalität wurde nicht verstanden. Sein erster Venedigbesuch 1819 veränderte seine Malerei. Er wurde zum modernen Maler, bildete nicht mehr ab, sondern reduzierte das Bild auf Farbe und Licht. John Ruskin bezeichnete ihn als „pure nature“ (reine Natur). Und bald galt er als Vorläufer der Abstraktion; manche sahen ihn gar als Impressionisten. Turner grundierte weiß damit das Bild heller erscheint, nicht dunkel, wie damals üblich. Er verdünnte die Ölfarbe und bearbeitete seine Bilder auch mit Pinselstilen und Händen. Im Spätwerk wirkt die Natur leicht, fragil und schwebend. 1842 hat er die „The Opening of the Walhalla“ (Die Eröffnung der Walhalla) bei Sonnenuntergang beinahe mystisch gemalt. 1845 an der Münchener Kunstausstellung gezeigt, wurde das Bild als „unbegreifliches Kuriosum“ kritisiert. Sechs Jahre später, nach seiner Präsidentschaft an der Royal Academy, erkrankte er an der Cholera. Seine Werke hinterließ er der Tate Britain. Begraben wurde er, seiner Virtuosität entsprechend, in der St. Pauls Cathedral.
Sein Werk erstaunt und bewegt unvergleichlich. Die Ausstellung ist sehr gut besucht, was eine Veränderung des Standpunkts erschwert. Gerne möchte mensch sich ganz nahe zum Bild und wieder weit weg begeben, denn satt wird man nicht vom einmaligen Besuch.

Turner. Three Horizons. Lenbachhaus München: Kunstbau am Königsplatz. Bis 10.03.2024

Bildquellen

  • Joseph Mallord William Turner, Küstenlandschaft und Gebäude, Südfrankreich oder Süditalien, ca. 1834, Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856: © Photo / Foto Tate
  • Joseph Mallord William Turner, Mündung der Maas: Handelsschiff für Orangen zerbricht auf der Sandbank; die Kirche von Brill Richtung Südsüdost, Maassluis Südost, ausgestellt 1819, Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 © Photo / Foto Tate: © Photo / Foto Tate