In ihrem auf Gerichtsaussagen beruhenden Theaterstück inszenieren die Immoralisten den Untergang der Titanic als menschliche Vollkatastrophe

Der Untergang des Abendlandes, der Untergang der Titanic. Wenig Unglücke in der Geschichte der Menschheit haben ein solches mediales Echo geworfen wie das Sinken des damals größten Schiffs der Welt. Zig Verfilmungen und Bücher folgten, Ausstellungen und ein Wrack, das für abenteuerlustige Touristen so attraktiv ist wie der Mt. Everest. Unterhalb all des Rummels, über dem Celine Dion ihren Herzschmerz singt, liegen Nebel, Unklarheiten, Schuldzuweisungen. Denn: War der Untergang ein Unglück? Oder menschliches Versagen?
Die Antwort auf diese Frage folgt gleich zu Beginn der neuen Produktion der Immoralisten mit dem schlichten Titel „Titanic“. Das Schiff sei ein „Symbol für die menschliche Hybris“. Wie zum Beleg tritt als erstes J. Bruce Ismay (herrlich überzeichnet: James Foggin), der Schöpfer der Titanic an die Anklagebank und wirkt selbst angesichts des gesunkenen Schiffs noch stolz. Er ist einer der vielen Zeugen, die im Prozess um das Schiffsunglück nur wenige Tage nach dem Untergang in New York verhört werden. Manuel Kreitmeier hat die Gerichtsprotokolle studiert und dramatisiert. Repräsentativ kommen sieben Personen in den Gerichtssaal, allesamt Überlebende oder unmittelbare Zeugen, und rekonstruieren, verteidigen, beschuldigen oder zittern vor sich hin. Zwischendurch werden sie immer wieder von Erinnerungen an das Unglück übermannt, das zu diesem Zeitpunkt nur wenige Tage zurückliegt. Der Soundtrack (Florian Wetter) wird dramatisch, das Licht flackert, das Schiff sinkt in den Köpfen der traumatisierten Menschen ein zweites Mal.
Entsprechend gespannt sind auch die Emotionen. Zu Beginn schreien alle Beteiligten im Chor: „Wer ist der Verantwortliche?“ So einfach ist die Schuld nicht abgeschoben. Stattdessen zeichnen sich die prekären Bedingungen und problematischen Einstellungen der Crew ab, die im Mikrokosmos des Schiffs vorherrschten. Der nervlich vollkommen überreizte Matrose Frederick Fleet (tragisch überspannt: Sebastian Ridder) will den Eisberg im Ausguck erst kurz vorher gesehen haben. Ferngläser hatte er keine. Officer Harold Lowe (intensiv-cholerisch: Thomas Kupczyk) hatte bei der Evakuierung der über 2000 Passagiere nur 20 Rettungsboote zur Verfügung. Als italienische Passagiere in das herabgeseilte Boot steigen wollen, feuert er Schüsse auf die allzu fremden Menschen ab, die er nicht versteht, nicht verstehen möchte. Bei dem Untergang starben vor allem Menschen, die in dritter Klasse reisten, viele von ihnen kamen erst gar nicht bis zu den Rettungsbooten.
Vertreter dieser Klasse fehlen pikanterweise auch unter den erhitzt debattierenden Überlebenden. Und so staunt das Publikum über die Arroganz einer Mannschaft, die sogar den einkommenden Funkspruch eines nahen Schiffes beleidigend abschmettert, weil der Funksprecher kein Deutsch spricht. Man könnte über derartige eitle Nationalismen lachen, wären sie nicht von trauriger Aktualität. Die vielen fehlenden Rettungsboote, Suchscheinwerfer, Ferngläser hatte man für ein Schiff übrigens nicht eingedacht, von dem niemand jemals glaubte, es würde einmal sinken.
Man schaut fassungslos und fasziniert, wie der Gerichtssaal auf der minimalistisch gehaltenen weißen Bühne zwischen traumatischem Realitätsverlust und irrem Selbsterhaltungstrieb in Dauererregung verfällt. Selbst in der Pause beleidigen sich die Figuren, schlagen Türen zu. Am Ende steigen sie noch einmal ins Schlauchboot und die Panik kommt wieder. Sind wir noch im Gerichtssaal, endet das Unglück jemals? Die Faszination bleibt.

Vorstellungen: 29. Februar, jew. 20 Uhr und im März. Alle Termine: Theater der Immoralisten.

Bildquellen

  • (vorne): Frederick Fleet (Sebastian Ridder). (hinten): Officer Harold Lowe (Thomas Kupczyk) sowie Harold Bride (Chris Meiser): Foto: Theater der Immoralisten