Utopie und Zeitenwandel: Ein Essay zu aktuellen Fragen

Hans Holbein d. J., Porträt des Thomas Morus, Tempera auf Holz, 74,2 cm x 59 cm, 1527 © The Frick Collection

Krise, Epochenwechsel, Zeitenwandel – aus vielerlei Gründen ‚spüren‘ wir das derzeit, auch die Politik führt die Begriffe im Munde. Was sind die Indikatoren eines solchen historischen Prozesses? Welches die typischen Äußerungen, etwa in Wissenschaft und Kunst?

Etappen der Utopie
Ou-Topos, ein griechischer Begriff, der erst in der Renaissance geprägt wurde, bedeutet: Nicht-Ort. Also eine Lokalität und Situation, die es faktisch nicht gibt, die aber imaginiert wird – eine fiktive Plattform für Wunsch-Projektionen von Zuständen, die in der Gegenwart nicht realisiert sind. Der griechische Philosoph Platon entwickelte in seinem literarischen Dialog Stadtstaat (Politeia) um 400 vor Christus eine solche Sozialvision. Auf die Ausgangsfrage eines Gesprächsteilnehmers nach der kardinalen Tugend der Gerechtigkeit wird ein nicht-existentes Staatsgebilde entworfen, in dem diese am ehesten verwirklicht werden könne. Platons literarische Skizze entsteht in einer Situation, als sich die griechischen Städte, besonders Athen und Sparta, gerade am Ende eines jahrzehntelangen, zermürbenden Krieges befanden. Die Epoche der Hochklassik des 5. Jahrhunderts mit den Meisterleistungen der Architekten und Künstler vor allem in Athen ist vorbei, etwas Neues bricht an.
Thomas Morus, englischer Politiker unter Heinrich VIII., befreundet mit Erasmus von Rotterdam, auf dem Schafott hingerichtet, weil er dem König abschwor, als dieser sich – gegen den Papst – zum kirchlichen Oberhaupt der Kirche Englands erklärte, publizierte 1516 seine folgenreiche Schrift Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia. Hier heißt es jetzt: „Utopia“. Und der ideale Ort ist eine Insel – in der Konstruktion zwangsläufig ein Eiland, sonst kennte man es vermutlich längst. In der Widmung formuliert Morus: „Ich schicke Dir hier meine Utopia …“ – die geographische Bezeichnung lässt der Autor also umgehend in ein literarisch-philosophisches Konnotat münden. In deutlicher Divergenz zur englischen Realität beschreibt er Bildung für Alle, Toleranz, gemeinsamen Grundbesitz, eine Republik mit Wahlbeamtentum und Anderes mehr auf Utopia. Kurz der Blick in die Zeitgenossenschaft: Die Renaissance ist da, die Neuzeit hat begonnen. 1492 landete Kolumbus in Amerika an. 1504 hatte Michelangelo seinen kolossalen marmornen David in Florenz fertiggestellt. Zwischen 1512 und 1516 schuf Matthias Grünewald den Isenheimer Altar. Hernach werden Idealstädte von Architekten auch real entworfen und gebaut: Sabbioneta in der Po-Ebene durch Andrea Palladio (1554–1571), Palmanova in Venetien (ab 1593).
Aus der langen Reihe nachfolgender utopischer Entwürfe sticht Ernst Blochs dreibändiges Werk Das Prinzip Hoffnung heraus, geschrieben zwischen 1938 und 1947 im Exil in den USA, veröffentlicht 1954. Bloch formuliert am Ende keine neue konsistente eigene Utopie. Vielmehr erörtert er philosophisch-historisch mögliche Facetten der „Grundrisse einer besseren Welt“ und „Wunschbilder des erfüllten Augenblicks“. Doch auch hier betrifft das Datum des Nachdenkens ohne Zweifel eine Zeitenwende. Heute hat die Rede von der „Dystopie“ neue Konjunktur, des skeptisch-pessimistischen Zukunftsentwurfs: nimmt das wunder?

Die (Natur)-Wissenschaften
Es ist kein Zufall, dass mit den Krisenzeiten und Neuansätzen von Epochen nicht nur künstlerische Neuerungen, sondern wissenschaftliche Impulse einhergehen, gerade solche der Naturwissenschaften. Seefahrt und die je erzielten Fortschritte der Bootsbautechnik beeinflussten die griechischen Kolonisierungen in Unteritalien und Sizilien ab 750 vor Christus. Mit dem Zug Alexanders des Großen gen Osten bis nach Indien (ab 334 vor Christus) explodierten interkultureller Erfahrungsschatz, Immigration und Emigration, kulturelle Vermischung. Auch hier ging soeben eine Epoche zu Ende, die Späte Klassik war vorbei, der Hellenismus begann (wie man später definierte). Im ägyptischen Alexandreia entstand die erste Universalbibliothek der Geschichte. Überrascht es, dass im Resultat dieser territorialen Bewusstseinserweiterung ebendort Ptolemaios seine berühmte geozentrische Weltkarte entwickelte? Wundert es, dass wenige Jahre zuvor der berühmte Philosoph und interdisziplinäre griechische Gelehrte Aristoteles mit seinen Abhandlungen die wissenschaftliche Botanik und Zoologie begründete?
Das Interesse an Flora und Fauna kann tatsächlich ein Indikator für weitere Analyse sein. Alexander von Humboldt setzte mit seinen Forschungsreisen (ab 1799) nach Lateinamerika ein Zeichen, seine Veröffentlichungen dazu begründeten die „Pflanzengeographie“. Wieder ein Ausgreifen an der Epochenschwelle. Die ersten fundierten Studien über Chlorophyll und die Photosynthese kommen um 1910 – da setzt sich die Moderne endgültig durch.

Das Kreuz der Interpreten – und der Geschichte
Ein Problem bleibt bei historischer Betrachtung: Die Prozesse lassen sich erst im Rückblick von zwei, drei Generationen ablesen und bewerten. Und die innovativen Impulse selbst haben oft einen ähnlichen Nachlauf.
510 vor Christus vertrieben die Athener die letzten Tyrannen aus der Stadt; erst ab 460 war die erste europäische Demokratie dort stabil installiert. Kurz nach 1450 erfindet Johannes Gutenberg in Mainz die Buchdruckertechnik, die die antike und mittelalterliche Form der Vervielfältigung durch Abschrift per Hand ablöste: bewegliche, metallene Lettern und die Druckpresse ermöglichten Auflagen. Nachdrückliche gesellschaftliche Wirkung zeitigte die Innovation dieser frühen Medienwende erst einige Jahrzehnte später, als Motor der Reformation für die eilends und großflächig über Europa verbreiteten Streitschriften und Pamphlete Martin Luthers.
Die moderne wirtschaftliche und politische Globalisierung setzte mit den 1970er Jahren ein, zunächst zögerlich, dann rasant. Aktuell verzeichnen wir deren erste wirklich ernsthafte Krise. Die Digitalisierung der beruflichen und privaten Welten begann in der Ersten Welt etwa ein gutes Jahrzehnt später – hier werden kritische Zusammenbrüche noch folgen. 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ mit ernstlicher Warnung und Prognose, dass die Ressourcen der Erde binnen eines Jahrhunderts aufgebraucht sein könnten. 1998 erreichten Die Grünen ihre erste Regierungsbeteiligung auf Bundesebene. Greta Thunberg trat 2018 auf die Bühne, nahezu zeitgleich Extinction Rebellion und Fridays für Future.
Nichts ist zufällig, es scheint manchmal fälschlich nur so.

Bildquellen

  • Hans Holbein d. J., Porträt des Thomas Morus, Tempera auf Holz, 74,2 cm x 59 cm, 1527: © The Frick Collection
  • Hans Holbein d. J., Porträt des Thomas Morus, Tempera auf Holz, 74,2 cm x 59 cm, 1527: © The Frick Collection