Übergriff als Literatur? Autor Valentin Moritz tritt einen Skandal los. Eine kritische Rekonstruktion

Locker schlendert Valentin Moritz, Mitherausgeber der Anthologie „Oh Boy. Männlichkeit*en heute“, durch die sommerlichen Freiburger Straßen, schaut neugierig ins Schaufenster der Buchhandlung Jos Fritz. Im Sommer noch, als die Videoreportage des SWR gedreht wurde, waren dort zum Anlass des Freiburger Festivals „Mann, Mann, Mann!“ (Mixtape berichtete im Juli) Bücher zum Thema (kritische) „Männlichkeit“ zusammengestellt. Die Anthologie von Valentin Moritz und Donat Blum wurde auf dem Festival der Freiburger Initiative samt&sonders promotet, Moritz las aus seinem dort abgedruckten autobiografischen Text „Ein glücklicher Mensch“. Auf 15 Seiten beschreibt er darin einen sexuellen Übergriff, den er selbst begangen hat – und seine Gefühle als Täter.
Freiburg im Herbst. Der Vertrieb des Buchs wird vom Berliner Kanon Verlag eingestellt. Viele Beiträger:innen der Anthologie, die dort alle kritisch zum Thema Männlichkeit schrieben, distanzieren sich. Fazit: Valentin Moritz‘ Text hätte nicht erscheinen dürfen. Auch samt&sonders verkündeten, dass sie – hätten Sie um die Umstände der Veröffentlichung von Moritz‘ Text gewusst – ihre Veranstaltung nicht durchgeführt hätten. Von Valentin Moritz selbst ist nichts mehr zu hören. Sein Instagram-Profil ist auf privat gestellt. Für Interviews steht er nicht zur Verfügung.
Was ist passiert? Grundsätzlich sollte sich die Frage gar nicht stellen. Ein autobiografischer Text, der aus Täterperspektive einen sexuellen Übergriff beschreibt, die Perspektive des Opfers vollkommen unberücksichtigt lässt, ist per se problematisch. Wenn er dann auch noch der Selbstprofilierung des Autors dient, seiner Suche nach einem „Möglichkeitstheater“ für Männer, erschwert das die Sache.
Trotzdem bleibt der Aufschrei nach Erscheinen der Anthologie im Juli aus, das Buch (und damit Valentin Moritz‘ Beitrag) wird im Feuilleton als wichtiger Einstand begrüßt. Die SWR-Reportage folgt Valentin Moritz nicht nur artig bei seinen Spaziergängen durch ein idyllisches Freiburg, sondern zeigt auch, wie sich der Autor von einem anderen Mann die Haare schneiden lässt. „Schicke Frisur“, möchte man ihm da zurufen. Um das eigene Selbstbild geht es auch in Valentin Moritz‘ Text, der lange um den begangenen sexuellen Übergriff kreist, vom Frisbeespielen mit dem besten Buddy und der eigenen Nachdenklichkeit handelt. Man durfte sich schon beim unvoreingenommenen Lesen zum Erscheinungszeitpunkt fragen, was, nein, vor allem wer hier eigentlich im Mittelpunkt steht. Das Opfer der sexuellen Gewalt sicherlich nicht.
Dann ist es aber eben dieses Opfer, das die Dinge ins Rollen bringt. Bald nach Erscheinen meldet sich die Frau, der sich Valentin Moritz gegenüber sexuell übergriffig verhalten hat, anonym öffentlich zu Wort. Sie macht deutlich: Moritz‘ Beitrag zur Anthologie sei gegen ihren Willen erschienen. Und nicht nur das: Er würde die Tat verharmlosen, das Problem verlagern. Ihr Statement auf Instagram, das etwa auf der Plattform Keine Show für Täter Berlin geteilt wurde, liest sich eindringlich: „Ich schreibe hier, weil ich darin die einzige Möglichkeit sehe, wieder Kontrolle zu erlangen. Über mein Leben und diesen Moment in meinem Leben, den Valentin Moritz nun seit Wochen nutzt, um sich medial zu profilieren – wohlwissend, dass ich dem widersprochen habe. Mehrfach.“ Valentin Moritz habe ihr Leiden zurückgedrängt, ihre explizit geäußerte Weigerung, die Publikation zu akzeptieren. „Es ging immer nur um ihn“, so die Frau, die sich unter dem Pseudonym Rabea auch an das Nachrichtenportal rbb|24 wendet. Öffentlich ruft sie zum Boykott des Buchs auf.
Ihr Aufruf hat die Branche nachhaltig schockiert. Die Initiative samt&sonders will intensiv reflektieren, wem sie in Zukunft eine Bühne bieten will. Die Diskussion ist angestoßen und die Frage eröffnet, wie sehr der Wille eines Opfers in vergleichbaren Fällen zählen wird.

Dieser Text ist eine gekürzte, leicht veränderte Fassung des Artikels „No, Boy!“, der in der Winterausgabe der UNIversalis Mitte November erscheint.

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  • Grafik im Verlag erstellt: Cover-Copyright: Kanon Verlag