Sintfluten als Weltengeburten: Die Fondation François Schneider in Wattwiller zeigt Arbeiten von Abdelkader Benchamma

Eine heranwogende Welle mag zu einer Uferlandschaft werden, abfließendes Wasser bildet sich zu feingezeichneten Gesteinsschichten aus, Sintfluten erschaffen Welten und zerstören sie wieder. Nur ganz kurz in all diesem Geschehen gibt es auch den Menschen. In der Ausstellung „Géologie des déluges“ in der Fondation François Schneider lassen die Tintenzeichnungen von Abdelkader Benchamma Sintfluten und Weltenentstehung, Gesteinsbildung und Wunderwelten, Geschichten, Mythen und Natur erleben
Betritt man den zentralen großen Saal der Ausstellung, befindet man sich gleich mitten drin: Blau, grau und grün erstreckt sich auf einer der Wände ein wellenähnliches, aufwallendes Band. Sind wir schon mitten drin im Auge des Sturms? Im „déluge“, der Sintflut? Doch nein, sagt der Künstler, und wir schauen genauer hin. Was er gezeichnet hat, ist nicht einfach eine Welle. Was Wasser zu sein scheint, wird auch zur Küstenlandschaft, auf die der Blick von oben fällt. Die Erdtöne sowie die Canyons und Flussläufe, die die Linien aufbrechen, lassen eine solche Küste aufscheinen. Aus Wasser wird die Maserung von Stein.
Der große Raum ist unterteilt und belebt durch mannshohe Aufsteller aus geleimtem Papier und Leinwand, die diese visuellen Elemente wiederholen und erweitern. Eine Art Grotte – vielleicht auch ein Tunnel aus Wasser – erscheint auf einem klippenartigen hoch aufstrebenden Objekt. Ein aufgeschnittener Edelstein könnte ein anderer dieser Aufsteller sein. Man kann zwischen den Elementen herumgehen und sich in ihrem Wechselspiel verlieren. Die „Lignes de rivage“ genannte Installation ist vor Ort entstanden und es wird sie nur für die Dauer dieser Ausstellung in Wattwiller geben. Alle Zeichnungen sind mit farbintensiver Tinte gestaltet, die neben Schwarz auch Blau-, Oker-, Rot- und einige Grüntöne umfasst.
Vom raumfassenden Großen geht es in eine Galerie mit kleinformatigen Zeichnungen. Von einem „Kometenbuch“ des 16. Jahrhunderts inspiriert, wird auch hier das Thema von Welten-Entstehen und Vergehen aufgegriffen. Wurden (und werden) Kometen, Meteoriten als Gefahr, als Bringer von Unglück und Zerstörung gedeutet, könnten sie auch zugleich die Lebensspender sein. Wissenschaftliche Theorien in diese Richtung gibt es, denn in Meteoriten wurden sowohl DNA-Bausteine als auch in Mineralien eingeschlossenes Wasser entdeckt.
Eine kleine Zeichnung links am Anfang setzt diese Vorstellung um: Wie ein aufgeschnittenes Felsstück zeigt sich eine Maserung, in der sich zugleich ein See, eine Landschaft, Wolken zu zeigen scheinen. Diese „lecture des pierres“, wie sie der Autor Roger Caillois in einem Buch nennt, das reale Steine mit sehr ähnlichen Mustern zeigt, verweist erneut auf die Elemente von Schöpfungsmythen.
Auf der anderen Seite der Bilderserie findet sich eine Zeichnung, die viele Fragen aufwirft: In einem Ozean schwimmen Menschen, einige wenige befinden sich in einer Art Becken, das ebenfalls offenbar schwimmt. Ist es die Sintflut mit der Arche oder eine untergehende Welt, in der sich nur wenige Privilegierte retten können?
Im Untergeschoss des Ausstellungsgebäudes geht es zu fünf Zeichnungen in größerem Format, Tinte auf Papier, und der erste Impuls ist: Da ist er, der Blutregen oder auch der Feuerregen, der in so manchem Kometen- und Wunderbuch der frühen Neuzeit zu finden ist und seit jeher als fester Bestandteil apokalyptischer Vorstellungen fungiert. Auf einem der Bilder scheinen zwei Schiffe ihren Weg durch diese entfesselten Fluten zu suchen.
Eine Serie von Lithografien, die mit dem Atelier Michael Woolworth realisiert worden ist, trägt den Titel „Retraite des eaux“ – das Zurückweichen der Wasser, ein zentrales Element der Geschichten über die Sintflut, die ein neues Universum ermöglicht in dem Moment, in dem sie zurückweicht. Das zentrale Element ist eine Art Grotte, die immer wieder mit dem lithografischen Druckverfahren aufgebracht ist und dann individuell zeichnerisch ergänzt wird.
In einer Serie von Videoinstallationen mit dafür komponierter Musik, die „Grotte Celeste“ (Himmlische Grotte), tauchen die kosmologischen Elemente wieder auf. Ein sich drehender und von vielen Objekten umschwirrter Planet mag an unsere Erde erinnern. Der Wassertunnel oder Schlund, der schon in der Installation „Lignes de rivage“ sowie in den Lithografien erkennbar war, erscheint wieder, und beim zweiten Hinsehen bemerkt man kleine Menschen, die offenbar mit Rucksack bepackt, ihren Weg in diesem Tunnel gehen. Eine Welt von aufschäumenden Geysiren könnte die Oberfläche eines uns unbekannten Planeten sein.
Es ist diese dynamische Weltenerzählung, die den Betrachter sofort bannt und fesselt. Ihr Künstler Abdelkader Benchamma studierte an den Écoles des Beaux-Arts in Montpellier sowie in Paris. Auch heute lebt und arbeitet er in diesen beiden Städten. Mit „Géologie des déluges“ ist ihm ein intensiv erlebbares Werk gelungen, das uns den Elementen aussetzt und zugleich die Frage stellt, wo wir Menschen uns befinden, in diesem Entstehen und Verschwinden von Welten.
Die Ausstellung „Géologie des déluges“ hat in den Räumen der Fondation François Schneider einen sehr schönen Platz gefunden. Das 2013 eröffnete Zentrum für zeitgenössische Kunst entstand in einer ehemaligen Flaschenabfüllanlage, die völlig umgestaltet wurde. Hell und transparent stehen 2000 Quadratmeter Fläche zur Verfügung, ein angrenzender Skulpturengarten lädt zum Verweilen ein.

Abdelkader Benchamma, Géologie des déluges. Fondation François Schneider. 27 rue de la Première Armée, 68700 Wattwiller. Mi–So 11–18 Uhr. Bis 24.09.2023

Bildquellen

  • Abdelkader Benchamma bei der Arbeit: © Morane Remaud