Reflexionen über das Warten

Von Zeitdruck und Muße

Beim Warten fiel mir ein, was ich vergessen hatte.

Wir nähern uns wieder der Adventszeit, die durch ihre vorweihnachtliche Ausdehnung zu kommerziellen Zwecken bereits begonnen hat. Das kann nicht nur für gläubige Christen als störend empfunden werden, sondern selbst für Atheisten und Agnostiker, die inzwischen zur Mehrheit gehören. Dahinter steht ein durch das kapitalistische System vorangetriebenes Effizienzdenken, das dem Abwarten entgegen steht. Zeit ist Geld. Was zählt, ist der schnelle Euro. Das Vorauseilen beschleunigt Hektik und verhindert das Aufkommen einer besonderen Stimmung, die einmal mit dem Advent, ursprünglich eine Zeit der Besinnung und Erwartung, einherging. Die allseitige Beschleunigung – eben nicht nur von Betriebssystemen, sondern mittlerweile aller Lebensbereiche – ist zu einem Ausdruck unserer Epoche geworden. Keiner hat mehr Zeit. Nicht nur im Berufsalltag, sondern auch im Privatleben, in sogenannter Freizeit muss alles eng getaktet, lückenlos verplant sein. Soziologen bezeichnen Zeitknappheit als ein modernes Phänomen. Dabei war es gerade das Versprechen der modernen Technologie, durch das Beschleunigen vieler Prozesse Zeit zu sparen.
Vorauseilen zu müssen, nicht mehr warten zu können ist für viele zu einem sozialen Zwang geworden. Sich dem zu entziehen ist nicht leicht, das kann jeder im Alltag an sich selbst feststellen. Wer die Dinge langsam angeht, könnte in den Verdacht geraten, von gestern zu sein.

Das Schnellschnell eines Beschleunigungs- und Geschwindigkeitswahns hat absurde, oft lebensgefährliche Züge angenommen. Am krassesten zeigen sich solche Auswüchse im Straßenverkehr. Raserunfälle häufen sich. Rasant zunehmende Lkw-Unfälle durch überlastete, unter Zeit- und Konkurrenzdruck stehende Fahrer. Nächtliche Rennen mit hoch getunten Fahrzeugen in Großstädten ohne Rücksicht auf Verluste. Anfang September raste in Berlin-Mitte ein 42-jähriger Fahrer bei einem Überholmanöver auf dem Gehsteig in eine Gruppe von Passanten: Vier Menschen wurden getötet, fünf schwer verletzt. Sicher, das sind extreme Beispiele, aber solche Vorfälle nehmen deutlich zu, gehen aber auch schnell wieder in der Nachrichtenflut unter.
Das Gefühl dauernder Zeitknappheit, die schleichende Angst, nicht mehr mitkommen zu können, kann Panikattacken hervorrufen. Auffallend stark haben Depressionen und Burnout zugenommen, heißt es. Ist es so, oder wird uns das nur so durch die Medien vorgegeben? Der Soziologe Hartmut Rosa jedenfalls sieht in seinem Essay „Beschleunigung und Entfremdung“ eine der Ursachen dieser Entwicklung im Anspruch, “möglichst viele Optionen zu realisieren aus jener unendlichen Palette von Möglichkeiten, die die Welt uns eröffnet“. Der US-amerikanische Futurologe Alvin Toffler hat sich eingehend und wesentlich mit den Folgen der Digitalen Revolution beschäftigt. Sein bekanntestes Buch trägt den Titel „Future Shock“. Darin heißt es: „Der Zukunftsschock ist eine Zeiterscheinung, ein Ergebnis der Tatsache, dass sich die Veränderungen in der Gesellschaft immer rascher vollziehen, einen immer größeren Umfang annehmen.“ So ist es. Aber was ist diesen Vorgängen entgegenzusetzen?

Rückbesinnung

„Entspannen Sie sich“, empfiehlt der Ökonom und Nachhaltigkeitsexperte Fred Luks, „das ist wahrscheinlich das Beste, was sie zur Rettung der Welt beitragen können“. Manche Lösung, die sich nicht erzwingen lässt, könnte sich so auftun. Geduld haben, einfach wieder lernen, abzuwarten und Tee zu trinken. Wenn das so leicht wäre… Gerade zur richtigen Zeit ist unter dem Titel „Die Kunst des Wartens“ ein anregender und schöner Bild- und Textband erschienen. Darin werden verschiedene Arten und Positionen des Wartens vor allem durch zeitgenössische Darstellungen in Film, Fotografie und Literatur veranschaulicht, beschrieben und gegenübergestellt. Gewartet wird im Verkehr und auf dem Amt, vor dem Postschalter oder der Supermarktkasse, in der Arztpraxis oder vor einem Event, auf den Anschluss in der Leitung oder den Schlaf, der sich nicht einstellen will. Zumeist wird das Warten als Zumutung empfunden, als verlorene oder fremdbestimmte Zeit. Aber das Warten kann auch selbstbestimmt sein, kann Freiraum bieten für Reflexion und Wahrnehmung, Kreativität und Entschleunigung, kann ein gewinnbringendes Heraustreten sein aus dem Trott oder gar ein freudvoller Zustand der Erwartung.
Es ist ein vorrangiges Anliegen der Herausgeberinnen Claudia Peppel und Brigitte Kölle, daran zu erinnern. Neben einer Analyse der Gegenwart erfahren wir auch, dass das Warten eine alte Kulturtechnik ist, die zur Lebensqualität und Lebensstrategie beitragen kann. Etwas, das uns allmählich abhanden zu kommen scheint in Zeiten von Hektik und Zeitmangel. Wo doch das Warten eigentlich ein unerlässlicher Teil unseres Lebens ist und war, eine anthropologische Konstante und Kompetenz. Nämlich die Kompetenz, abzuwarten und zukunftsorientiert zu handeln, was zur Entwicklung eines selbstbewussten, erfolgreichen und sozial kompetenten Menschen beitragen kann. Neben einer ausgeprägten Willensstärke ist hierbei eine grundlegende Vorraussetzung, sich überhaupt etwas vorstellen zu können, auf das zu warten lohnt. Ursprünglich sei die Haltung zum Warten durch unsere philosophischen Betrachtungen, religiösen Glaubensvorstellungen und Kontemplation geprägt worden, was sich auch auf wissenschaftliche und künstlerische Hervorbringungen ausgewirkt hat. So sieht auch der österreichische Kognitionsforscher Thomas Raab das Warten als „eine Folge der grundlegenden Kulturleistung in der Menschheitsentwicklung“.
Wenn das Warten nicht nur ertragen, sondern auch angenommen wird, durchdringt es mit ihren Begleitern Langmut, Ausdauer und Gelassenheit unser Dasein, unsere Sinnsuche, unsere Gefühle, Gedanken, Handlungen und Reaktionen. Demgegenüber erscheint in unserer beschleunigten, auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten Gesellschaft das Warten als ein anachronistisches Phänomen. Etwas anderes ist das Wartenlassen, ein schon immer wirksames gesellschaftspolitisches Machtinstrument, ein Herrschaftsmittel, ständiges Vorrecht der Macht. Mit den Worten des Kulturphilosophen Roland Barthes ein „jahrtausendealter Zeitvertreib der Menschheit“. Die Pförtner auf den Fotos von Andreas Gursky strahlen diese Macht aus: „an mir kommst du nicht vorbei!“. Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ bringt das auf zeitlose Weise zum Ausdruck.

Alltägliche Übung

Vergisst man das Warten und wendet man seinen Blick ab von den Uhren, vergeht die Zeit schneller. Das habe ich schon meiner Tochter, als sie noch klein war und ungeduldig wurde, oft gesagt. Aber genau genommen habe ich es mir gleichzeitig selbst angeraten, als Übung für den Alltag. Wenn es gelingt, man sich währenddessen umschaut, sieht man auf einmal, was man sonst übersehen hat. Was Warteschlangen betrifft, ist es so: sie sind einerseits Zeugnisse des systemische

n Mangels und unerfüllt gebliebener Wünsche, andererseits Ritual der Unterbrechung und unvermeidbarer Bestandteil des Alltags. In der Warteschlange sieht Andrej Lebedev gleichermaßen eine Sozialisationsinstanz und eine soziale Skulptur. Wie Statuen erscheinen die wartenden Menschen an bizarr gestalteten Bushaltestellen, irgendwo in Armenien. Die Düsseldorfer Fotografin Ursula Schulz-Dornburg hat sie während einer Reise durch dieses Land entdeckt. Diese Wartenden im Nirgendwo strahlen eine anrührende, beinahe feierliche Zuversicht aus.
Zu einem Vehikel, Wartezeiten und Leerlauf zu überbrücken, ist in unserem Alltag das Smartphone geworden. Da sind die hippen Wartenden, die sich als Teil einer Gemeinschaft von Insidern und Influencern begreifen. Sie stehen freiwillig in der Reihe, das Smartphone im Blick, vor einem angesagten Club oder zum Kauf eines neuen Kultprodukts. Das Foto „Good Feelings in Good Times“ von Roman Ondák zeigt eine Schlange von Jugendlichen, die die Sicherheit ausstrahlen, kurz vorm erwünschten Ziel zu sein. Existentielle Unsicherheit dagegen drückt sich aus in den Gesichtern von wartenden Flüchtlingen. Jenny Aloni findet dafür treffende Sätze: „Manche warten auf ihre Weiterfahrt, manche auf eine Rückkehr. Manche wissen nicht mehr, dass sie warten.“ Pater Frido Pflüger, Flüchtlingsseelsorger im Erzbistum Berlin, berichtet: „Ich habe viele Jahre in Afrika gelebt und mit Flüchtlingen gearbeitet, und eine der wichtigsten Erkenntnisse war die über das Warten. Es herrscht dort ein ganz anderes Zeitverständnis, eines, das danach fragt: Wann ist die Zeit reif? Und wenn die Zeit reif ist, dann geschieht etwas, aber solange die Zeit noch nicht reif ist, so lange geschieht nichts.“

Zeit der Muße

Wohl dem, der noch Muße haben kann. Eine höhere Kunst, wenn das Leben komplett durchgetaktet, alles auf Effizienz getrimmt ist. Wie soll da noch Zeit übrig bleiben für scheinbar nutzlose Mußestunden? Nach Grimms Wörterbuch bedeutet Muße: „Fernsein von Geschäften oder Abhaltungen“. Mit erschöpftem Abhängen, etwa vor dem Fernseher, hat das freilich nichts zu tun. Der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel geht in dem Sachbuch „muße – vom Glück des Nichtstuns“ der Sache kulturhistorisch nach. Sein „Diätratgeber für den Geist“ soll helfen, „den Blick für das Wesentliche zu behalten und die Kunst dessen zu pflegen, was früher Muße genannt wurde“. Jene Stunden, in denen wir ganz das Gefühl haben, Herr über unsere eigene Zeit zu sein, in denen wir einmal nicht dem Geld, der Karriere oder dem Erfolg hinterher rennen, sondern in denen wir zu uns selbst und unserer eigentlichen Bestimmung kommen. Hirnforscher und Psychologen haben längst herausgefunden, wie wichtig die Phasen der Absichtslosigkeit sind, des entspannten Nichtstuns. Kunstschaffen und Kulturleistungen sind ohne das undenkbar.
Weit gespannt sind die Ausführungen über die Muße. Gefragt wird, wann der erste Homo Sapiens des ewigen Jagens und Sammelns wohl leid war. Eines Tages war es dann soweit: „Eine(r) unserer Vorfahren brach aus dem prähistorischen Alltagstrott aus“. Vielleicht hat die Stunde des ersten Künstlers vor 35.000 tausend Jahren auf der schwäbischen Alb geschlagen, wo die bisher ältesten figürlichen Darstellungen aus Elfenbein gefunden wurden. Darunter eine vollbusige Frauenfigur, „Venus aus Schwaben“ genannt. Keiner wird je erfahren, ob sie eine Fruchtbarkeitsgöttin darstellt oder ein steinzeitliches Pin-up-Girl. Unter den Beispielen, wie aus dem Untätigsein heraus einige der schönsten Ideen entstanden, findet sich der Musiker John Lennon. Schnabel meint, seine Liedzeile aus dem Song „“I’m Only Sleeping“ könnte der Refrain aller Müßiggänger sein: „Jeder denkt, ich bin faul / ist mir egal, ich denke, sie sind verrückt. Laufen mit Volldampf kreuz und quer / bis sie bemerken, dass es keinen Grund gibt.“ Zur Entstehung von „Nowhere Man“, einer seiner berühmtesten Songs, hat Lennon berichtet: „Ich hatte morgens fünf Stunden lang versucht, einen Song zu schreiben, der gut war und eine Bedeutung hatte. Schließlich gab ich auf und legte mich hin. Dann kam ‚Nowhere Man’, Text, Musik, das ganze verdammte Ding.“
Empfohlene Bücher zum Thema: „Die Kunst des Wartens“, Wagenbach Verlag, 168 Seiten, Großformat mit vielen Abbildungen. „muße – vom Glück des Nichtstuns“, Pantheon Verlag, 288 Seiten.

Peter Frömmig

Bildquellen

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