Lauter letzte Worte: Das Theater Freiburg zeigt das Jugendstück von Igor Bauersima „norway.today“

Schade eigentlich, dass man immer noch nicht alles delegieren kann. Die Melancholie, den Liebeskummer, den Weltschmerz. Die Animationen, die im Kammertheater über die Gaze flimmern, hätten daran ganz bestimmt nicht schwer zu tragen. Ziemlich niedlich sehen die aus, irgendwie. Bald jedoch werden sie von Avataren abgelöst, die Julie und August, die sich nach und nach hinter der Gaze aufstellen, mehr ähneln. Sie ist blond, trägt das Haar kurz und einen gelben Hoody und ist auch sonst ziemlich forsch. Julie hat genug von ihrem eigentlich guten Leben, das sich jetzt mit 20 Jahren irgendwie schon totgelaufen hat. Sie fühlt eher zu wenig als zu viel, man könnte sagen, sie ist depressiv, doch das würde sie rundweg von sich weisen. Als Soundtrack singt Billie Eilish ziemlich herzerweichend „Everbody dies, surprise, surprise. (…) And when will I?“. Julie will nicht warten, sie definiert ihre Würde durch die Selbstbestimmung ihres Todes. Allein will sie sich aber auch nicht umbringen und so sucht sie sich in einem Chatroom einen Gleichgesinnten und findet: August. Diese letzte Reise führt über den norwegischen Lysefjord. Von einer Felsplattform geht es hier 600 Meter in die Tiefe. Totsichere Sache, meint Julie, und auch ziemlich instagramtauglich, ließe sich ergänzen.
Tatsächlich ist Igor Bauersimas Jugendstück „norway.today“ bereits 23 Jahre alt. Er hatte damals für sein Auftragswerk, dessen Uraufführung er am Düsseldorfer Schauspielhaus gleich selbst übernahm, einen realen Fall aufgegriffen. „norway.today“ bewegt sich überhaupt auf dem schmalen­ Grat zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Denn während Corona ist die Zahl junger Menschen mit psychischen Problemen und Erkrankungen noch mehr gestiegen, die Therapiemöglichkeiten jedoch nicht. Diese desolate Lage hat vermutlich das Theater Freiburg veranlasst, das Stück auf den Spielplan zu setzen. Seit der Uraufführung ist eine Generation herangewachsen, die ein Leben ohne soziale Medien nicht kennt. Dass sie diesen auch im Theater begegnen muss, ist wohl ein Kurzschluss. Regisseur Finn Bühr lässt sich Zeit bis erst die Animation, dann die beiden Avatare und schließlich die Gaze verschwinden. Wir schauen auf die sehr verletzlich wirkenden Gesichter von Antonis Antoniadis und Arwen Schünke, die Gast am Theater Freiburg ist. Jetzt wirkt sie ziemlich altklug, will sehen, wie es ist, wenn jemand stirbt, bevor sie selbst springt. Das Blümchenkleid lässt sie jedoch weniger tough wirken.
Obgleich der Deal zwischen den beiden längst geschlossen ist, wird auf der Bühne nun doch verhandelt. Und der kristalline Berg (Ausstattung: Samuel Herger), der die Bühne weitgehend ausfüllt, erweist sich als ziemlich rutschiges Terrain. August will sichtlich nicht hinter Julies Entschlossenheit zurückfallen und eben nicht der Looser sein, als den Julie ihn in einem Abschiedsvideo an ihren Ex-Freund vorstellt. August hält Julie ihre Empathielosigkeit vor, doch beide kauen auf ihren unzähligen Letzte-Worte-Filmen wie auf hartem Brot. Und der Gipfel ist eben auch Ausguck auf ein betörend schönes Polarlicht und Versteck für zwei ziemlich einsame Seelen, die miteinander Sex haben, indem sie einander erzählen, wie es wäre miteinander Sex zu haben. Ob man dieser Liebesgeschichte glaubt, sei dahingestellt, sie ist vielleicht doch mehr Ausdruck einer gesunden Lebensgier oder zumindest von einigem Verharrungsvermögen. Dennoch schaut man diesen beiden Darstellern gerne zu, wie sie langsam Nähe zulassen. In der Kälte und mit der Aussicht auf den Tod bekommen sie nach 75 Minuten die Kurve. Am Theater Freiburg gibt es fast so etwas wie eine Versöhnung mit dem Leben und als solche Gesprächsgrundlage über die oftmals prekäre Situation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen war das Stück ja auch gedacht.

Weitere Vorstellungen: 19./23. November, 20 Uhr im Theater Freiburg.

Bildquellen

  • Arwen Schünke und Antonis Antoniadis: © Marc Doradzillo