Karl Marx und die drohende Klimakatastrophe? Kohei Saitos Buch „Systemsturz“ eröffnet ein neues Verständnis der marxistischen politischen Ökonomie

Der noch junge japanische Philosoph und Associate Professor an der Universität Tokio Kohei Saito (*1987) erfährt aktuell weltweit hohes Interesse. Er studierte zunächst in Connecticut, dann an der FU Berlin und promovierte anschließend dort an der Humboldt-Universität. Sein wesentliches Aufgabengebiet erstreckt sich aus erklärt marxistischer Sicht vor allem auf den Zusammenhang politökonomischer Theorien mit deren praktischen Auswirkungen auf Natur, Mensch und Gesellschaft insbesondere auf dem Hintergrund der akut sich verstärkenden Klimakrise. Dabei ist er auf keinem Auge blind, sondern geht mit schematisch-dogmatischer Marx-Exegese ebenso unerbittlich ins Gericht wie mit dem destruktiven grenzenlosen Wachstumszwang und der damit verbundenen Profit- und Konkurrenzlogik des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Aufgrund seiner profunden Kenntnisse und wissenschaftlichen Qualifikation wurde er in den Kreis der Herausgeber der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) mit über hundert Bänden bei der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften berufen und war an der aktualisierten Zusammenstellung der 32 Bände umfassenden Abteilung IV (Exzerpte, Notizen, Marginalien) beteiligt. Deren bisher weitgehend unveröffentlichte und somit unbekannte Texte haben Saito nicht unwesentlich beim Schreiben von „Systemsturz“ beeinflusst.

Das neue Opium des Volkes
Schon im Vorwort zerstört Kohei Saito die Illusion, die Erderwärmung könne durch verantwortungsvolleres umweltfreundliches Verhalten jedes einzelnen Menschen spürbar aufgehalten oder gar zurückgeschraubt werden. Er erklärt die Benutzung der eigenen Einkaufstasche statt Plastiktüten oder den Umstieg auf ein E-Auto exemplarisch zwar für gute Absichten, jedoch für ein Konsumverhalten, das wie ein moderner „Ablasshandel“ funktioniert. Selbst die von der UNO für Regierungen und Großunternehmen propagierten „Sustainable Development Goals (SDG)“ seien dafür untauglich. Saito vergleicht diese als neuzeitliche Version mit dem von Karl Marx für die Religionen geprägten Begriff „Opium des Volkes“, die auf einer spirituellen Ebene die schlimmsten Auswüchse der kapitalistischen Wirklichkeit abfedern sollten. Denn: Der Mensch habe spätestens und vor allem seit der industriellen Revolution und der daraus resultierenden stetigen Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise mit ihrem ungezügelten Wirtschaftswachstum den Planeten unwiederbringlich verändert und ein neues Zeitalter, das Anthropozän mit all seinen destruktiven Konsequenzen eingeleitet. Und es war vor allen der damalige Zeitgenosse Karl Marx, der diesen Zusammenhang umfassend analysierte.

Kein kapitalistischer Weg aus der Klimakatastrophe
Die nächsten Kapitel widmet Saito dem Nachweis, warum es im Rahmen des kapitalistischen Weiterwirtschaftens unmöglich ist, einen Ausweg aus dem lebensbedrohlichen ökologischen Klimakollaps zu finden. Ausführlich analysiert er verschiedenste systemimmanente Möglichkeiten und Vorschläge eines New Green Deals durchaus auch von Seiten der Linken oder Grüner Parteien. Ideen wie Klima-Keynesianismus oder eines kapitalistischen Degrowth wie die der japanischen Ökonomen Yoshinori Hiroi oder Keishi Saeki oder des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph E. Stiglitz scheitern allesamt entweder an ihrem Festhalten am ungezügelten Wachstum und dem damit ehern verbundenem Zwang zur profitmaximierenden Ausbeutung des Menschen und der Natur oder in super-autoritären Systemen, die Saito Klimafaschismus oder Klima-Maoismus nennt. Diese grenzen haarscharf an eine weitere inakzeptable Alternative, die der Barbarei, deren Endstadium einen „Krieg aller gegen alle“ hervorbringt.
Also geht es stattdessen um einen Degrowth-Neustart in Form einer „Theorie der Freiheit Gleichheit und Gerechtigkeit“ jenseits der kapitalistischen Wesensmerkmale wie grenzenlosem Wachstum und verbrieftem und geschütztem Privateigentum an Produktionsmitteln. Und damit ist Saito bei Karl Marx angelangt.

Marx im Anthropozän
Die folgenden Argumentationsketten können im Rahmen einer kurzen Rezension nur holzschnittartig zusammengefasst werden, sind bei Saito aber sämtlich kohärent und ausführlich begründet dargelegt. Zunächst lenkt er die Aufmerksamkeit auf die umfangreichen Notizbücher und sogenannten Exzerpthefte, die Karl Marx während seiner langjährigen Forschungsarbeiten im Britischen Museum anfertigte, da er wegen ständiger Geldnot Bücher nur ausleihen konnte. Neben unzähligen Textauszügen finden sich hier auch unvollendete Gedankengänge, Ideen und Kommentare. All dies ist bislang weitestgehend unveröffentlicht und von der Wissenschaft ignoriert. Die aktuelle Edition in der erweiterten MEGA ermöglicht nun nach Saito einen neuen Blick auf die Entwicklung von Marx Kapitalismusanalyse, seiner Revolutionstheorie und insbesondere auf seine naturwissenschaftlichen Studien und darauf aufbauend seiner Erkenntnisse zum Verhältnis Mensch und Natur allgemein und speziell Kapitalismus und Natur. Er verschweigt nicht, dass im 1848 von Marx und Friedrich Engels geschriebenen „Manifest der Kommunistischen Partei“ ein noch ungebrochen positives Verhältnis der Verfasser zur allseitigen Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus herauszulesen ist, die allerdings auf der grenzenlosen Ausbeutung der Arbeiterklasse beruht. Nach deren kollektiver Erhebung und erfolgreicher sozialistischer Revolution könne dieser Produktivismus die Basis für den allgemeinen Wohlstand unter den Bedingungen des Gemeineigentums bilden. Im ersten Band des „Kapital“, zwanzig Jahre später erschienen, betonte Marx inspiriert von Justus von Liebig jedoch die Notwendigkeit eines nachhaltend verträglichen „Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur“. Marx lenkte im Folgenden seine Aufmerksamkeit auf das Studium archaisch und kommunal organisierter Stammgemeinschaften der Germanen, im alten Rom, in Indien und Südamerika und speziell der Mir oder auch Obschtschina genannten russischen Dorfgemeinschaften. 1881 antwortete Marx in einem Brief an die russische Revolutionärin Vera Sassulitsch auf ihre Frage, ob Russland im Hinblick auf die Revolution zuerst durch den Kapitalismus modernisiert werden müsse und die ursprünglichen Dorfgemeinschaften aufgelöst werden sollten, mit einem entschiedenen nein mit dem Verweis auf deren Gemeineigentum am Boden als eine wichtige Basis einer kommunistischen Entwicklung. Dieser doch radikale Bruch mit der produktivistischen Vergangenheit des Kommunistischen Manifests kommt noch deutlicher zum Ausdruck, als Marx dem Kapitalismus aufgrund dessen grenzenlosem Raubbau an der Natur eine Legitimitätskrise bescheinigt „die mit der Beseitigung des Kapitalismus und der Rückkehr der modernen Gesellschaft zu einer höheren Form des „archaischen“ Typus des kollektiven Eigentums und der kollektiven Produktion enden wird.“ (MEW- Band 19, Berlin 1987, S. 320).
Saito führt diesen theoretischen Wandel noch weiter aus und verortet Karl Marx als einen Vorläufer und Wegbereiter einer positiven Theorie eines „Degrowth-Kommunismus“ als revolutionäre Alternative zum kapitalistischen Zerstörungssystem. Auf mehr als hundert weiteren Seiten entwirft er dann ziemlich konkret seine grundsätzlichen Vorstellungen einer solchen Zukunftsgesellschaft und nennt deren fünf Säulen, darunter einen Wandel zur Gebrauchswertwirtschaft und eine umfassende Demokratisierung des Produktionsprozesses. Dazu gehören auch ebenso konkrete Vorschläge und Aufforderungen zu praktischem solidarischem Verhalten und einer Bündelung der Widerstandskräfte für die Rettung unseres Planeten durch den notwendigen Systemsturz. Dies hier noch näher zu erläutern übersteigt das vorliegende Format.
Kohei Saito hat ein wichtiges, durchweg argumentativ fundiertes Buch vorgelegt, das in die Hand und den Kopf einer jeden KlimaaktivistIn gehört und zum notwendigen Bestandteil der Strategiediskurse innerhalb der sozial-ökologischen Umweltbewegung werden sollte.

„Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“, Kohei Saito. dtv-Verlag

Bildquellen

  • Kohei Saitos Buch „Systemsturz“: Copyright: dtv verlag
  • Kohei Saitos Buch „Systemsturz“ eröffnet ein völlig neues Verständnis der marxistischen politischen Ökonomie: Foto: Kenshu Shintsubo