In der Kaserne Basel hat die KI-Installation „Decoding Bias“ der Berliner Performance-Künstlerin Theresa Reiwer zur Therapiesitzung geladen

Ein kahler weißer Raum. In der Mitte formen 8 Bildschirme einen Kreis, dessen Zentrum, eine runde Sitzgelegenheit, die Besucher:innen zum Platznehmen auffordert. Das Publikum schwatzt, schaut sich gespannt im Raum um, wartet auf ein Signal, das den Beginn einläutet. Da ist es. Die Bildschirme flackern auf und die Gesichter von acht Avataren erscheinen. Sie kauen an ihren Nägeln, blicken sich nervös um, verschränken die Arme gelangweilt hinter dem Kopf. Auch sie warten auf den Beginn. Was darauf folgt ist eine 45-minütige Therapiesitzung. Im Zentrum der Selbsthilfegruppe stehen künstliche Intelligenzen, die sich mit menschgemachten Verhaltensmustern konfrontiert sehen: Rassismus und Sexismus bestimmen die Codes, zwanghafte Selbstoptimierung und weißes Klassendenken geben auf perfide Art vor, logischen Denkmustern zu folgen. Fehlerhafte Datensätze, deren Vorbild der Mensch ist.
Die Videoperformance „Decoding Bias“ der in Berlin lebenden Medien- und Performancekünstlerin sowie Bühnen- und Kostümbildnerin Theresa Reiwer gleicht einem Sog. In ihren Arbeiten verbindet sie die physische Realität mit Video oder Virtual Reality. So verwischen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion: Ein kahler Raum mit acht Bildschirmen wird zur Live-Therapiesession, lässt Beobachter:innen zu Teilnehmenden werden. Seit 2018 forscht Reiwer zu Künstlicher Intelligenz, lotet in ihren Werken die Grenzen dessen aus, was KI heute ist und morgen eventuell sein wird.
Um die Avatare so echt wie möglich aussehen zu lassen, arbeitet die Künstlerin mit Unreal Engine. Hierfür haben acht Schauspieler:innen mit Spezialanzügen zur Erfassung der Körperbewegungen für den digitalen Avatar die Rollen eingespielt, in der Nachbearbeitung wurden ihre Gesichter animiert und mit Stimmen versehen. So entsteht ein täuschend echter Avatar, dessen Schulterzucken oder Augenverdrehen auf fast verstörende Art authentisch wirkt.
Für „Decoding Bias“ arbeitet Theresa Reiwer zudem mit einem Deep-Learning-Text-zu-Bild Generator. Als Grundlage dienten Schriftstücke zum Thema KI, aber auch Texte über Toxische Männlichkeit flossen in das Script ein. Teile des Gesprochenen entspringen einem KI-Chatbot, aber auch Autor:innen werden zitiert: Kim de L’Horizont, Bell Hooks, Liz Plank oder Kevin Davidson finden sich in den Konversationen und Erzählungen der Avatare wieder.
So vielseitig die literarischen Einflüsse, so sprunghaft die Themensuche, bei der sich „Decoding Bias“ nicht nur damit begnügt, seine Avatare die gängigen antipatriarchalen und postkolonialen Ismen aufsagen zu lassen, sondern zugleich versucht Nähe und Identifikationspotenzial über reale Alltagssituationen aufzubauen. Denn die Frage nach Gut und Böse stellt sich auch im kleinen Raum. „Du weißt, wie Menschen aus dem globalen Süden sind“ heißt es in etwa, als ein KI aus dem Versicherungswesen nüchtern erklärt, weshalb Menschen aus eben diesen Gebieten von der Krankenversicherung ausgeschlossen werden. Oder beim Bewerbungsgespräch. Beinahe parallelisiert raunt der Avatar die Qualifikationen einer schwarzen Frau vor sich hin: Bildungsabschlüsse, Auszeichnungen und Empfehlungen, während das Publikum wie im Loop immer und immer wieder dabei zusehen muss, wie ihr wortwörtlich die gläserne Tür vor der Nase zugeschlagen wird. Durch unsichtbare Hand, versteht sich. Denn die Fehler im System sind nicht greifbar. Sie sind Reproduktionen unseres Verhaltens, unserer Denkmuster, unserer realen Welt. Schmerzhaft, für Mensch und KI. Kein Wunder also, dass sich das System der Avatare in all dieser offensichtlichen Unlogik beinahe aufzuhängen droht. Wie im Wahn flüstert einer der KIs „It’s better to be feared than to be loved“ (übersetzt: „Es ist besser, gefürchtet zu werden, als geliebt zu werden“). Worte die dem italienischen Philosophen Niccolò Machiavelli (1469-1527) nachgesagt werden, der den Menschen in erster Linie als egoistisches Wesen beschreibt – von Unzufriedenheit, Maßlosigkeit und Habsucht angetrieben.
„Decoding Bias“ endet in einem fiebertraumartigen Spektakel, das die gestressten Avatare zum Selbstfindungstreatment in die Wüste schickt, gemeinsame Yogasessions und Sonnenanbetung inklusive. Begleitet von Chers Klassiker „Strong Enough“, bei dem nicht nur die Füße des Publikums mitwippen, sondern der gesamte Raum in Discolicht gehüllt wird. So unvorhersehbar der Beginn, so abrupt ist auch das Ende. „Decoding Bias“ lässt einen verwundert, aufgewühlt und atemlos zurück.

Bildquellen

  • Die Avatare finden sich in einer Selbsthilfegruppe zusammen: © David Egger