Im Gespräch: Lina, Regisseurin und Aktivistin aus Syrien (Bildrausch Filmfest Basel)

Unter dem Themenschwerpunkt „Truth And Other Lies“ präsentiert das diesjährige Bildrausch Filmfest Basel gegenwärtige investigative Filme. Darunter „5 Seasons Of Revolution“, eine persönliche Bestandsaufnahme der syrischen Revolution, die einmal als arabischer Frühling begann und im anhaltenden Kriegszustand endete. Im Interview mit Fabian Lutz spricht Regisseurin Lina (ein Pseudonym) über ihre Erfahrung als syrische Videojournalistin und Aktivistin, das Problem politisierter Berichterstattung und über eine Schneeballschlacht in Damaskus.

Kultur Joker: Hallo, Lina. Ich hoffe, dir geht es gut und du bist an einem sicheren Ort.

Lina: Mir geht es gut. Die Ereignisse, die ich im Film schildere, liegen ja schon einige Jahre zurück. Es hat aber auch Zeit gebraucht, mich danach wieder zu sammeln.

Kultur Joker: Hattest du von Beginn an vor, einen Film über deine Erlebnisse und die deiner Freund:innen während der Revolution zu machen?

Lina: (lacht) Nein, hatte ich nicht. Für mich, für das ganze Land kam es aber anders. Ursprünglich wollte ich einen Film über die Rolle von Frauen während der Revolution machen, dafür war ich in Ägypten und Libyen. Wir dachten, wir würden vielleicht zwei Jahre daran arbeiten. Wir hätten nie gedacht, dass es zwölf Jahre dauern würde! Es gab immer wieder neue unvorhersehbare Ereignisse, mit denen ich mithalten musste. So würde man normalerweise keinen Film schreiben.

Kultur Joker: Das klingt nach einer Herausforderung.

Lina: Ja! Auch wollte ich zunächst nur eine Figur portraitieren, dann kamen aber immer mehr Menschen dazu. Wobei sich auch das während des Drehs änderte, weil wir viele Menschen verloren – manche verließen das Land, manche verließen diese Welt. Und manche wollten schlicht nicht mehr Teil des Films sein. Zudem gab es einige Ereignisse, die wir nicht filmen konnten. Wir brauchten also viele erzählerische Mittel, um die Lücken zu schließen.

Kultur Joker: Du hast einen sehr persönlichen Film gemacht. Einerseits, weil die Verwendung von Handkameras oder Handykameras eine sehr intime Atmosphäre schafft, andererseits, weil du auch sehr intime Momente zeigst. Nicht nur sehen wir die Proteste, die Gewalt durch das Regime, sondern auch dein Team beim Diskustieren im Wohnzimmer, beim Lachen, beim Spielen. Warum ist dir dieser intime Blick so wichtig?

Lina: Ich will den Zuschauenden vermitteln, wie es sich angefühlt hat, in Syrien zu sein. Neben den großen Ereignissen wollte ich in meinem Film auch Dinge zeigen, die man üblicherweise nicht in den Nachrichten sieht. Was jenseits der Headlines passiert, was man in den zweiminütigen Nachrichtenbeiträgen nicht sieht. Das Kino kann hier mehr vermitteln als das Fernsehen.

Kultur Joker: Der Titel deines Films „5 Seasons Of Revolution“ unterteilt die Revolution in Syrien in fünf Jahreszeiten (Seasons). Woher kommt diese Idee?

Lina: Der Beginn der Revolutionen wurde „Arabischer Frühling“ genannt. Und zu Beginn hat es sich auch wie ein Frühling angefühlt – alles hat geblüht, Menschen haben zu ihrer Kraft, zu ihrer Stimme gefunden. Alle waren optimistisch. Dann wurde es schwerer, aber wir blieben motiviert, denn die Protestbewegung wurde immer größer. Die Sommerhitze kann einem zu schaffen machen, aber es war Sommer. Dann kam der Herbst. Es wurde zunehmend schwieriger, aber wir glaubten noch, da durch zu kommen. Dann wurde es noch schlimmer, aber auch da dachten wir noch, dass der Winter nur eine begrenzte Zeit dauern kann und der Frühling wiederkommt.

Kultur Joker: Aber das geschah nicht.

Lina: Nein! Stattdessen begann eine fünfte Jahreszeit, die es eigentlich nicht geben sollte, von der wir gar nicht wussten, dass sie existiert. In dieser Jahreszeit stecken wir bis heute, der arabische Frühling kommt nicht wieder.

Kultur Joker: Im Film bezeichnst du dich als Dokumentarfilmerin – und als Aktivistin. Wo siehst du die Verbindung?

Lina: Wenn du deinen Beruf als Journalistin in Syrien ernst nimmst, wirst du automatisch eine Aktivistin. Du kannst deinen Beruf nicht legal ausüben, da er vom Regime quasi kriminalisiert wurde. Alles, was du als Journalistin tust, macht dich zur Aktivistin. Von demher denke ich nicht, dass man da eine Grenze ziehen kann.

Kultur Joker: An einer Stelle im Film sagst du, dass dich die Einschüchterungen durch das Regime nur stärker zum Aktivismus getrieben hätten. Wie kann man das verstehen?

Lina: Eine Mitstreiterin hat unsere Auseinandersetzung mit häuslicher Gewalt verglichen: Wenn ein Ehemann in einem Streit seine Frau schlägt statt auf eine gemeinsame Lösung hinzuarbeiten, sie diese Behandlung nicht akzeptiert und protestiert, er sie wiederum verprügelt, hat sie am Ende noch mehr Gründe, sich von diesem Mann zu trennen. Wenn jemand auf deinen Protest auf eine so negative Weise reagiert, hilft dir das dabei, zu erkennen, wie groß das Problem tatsächlich ist und wie wichtig es ist, diese Beziehung zu beenden.

Kultur Joker: Die schockierendste Einschüchterung, die du erlebt hast und die im Film auch beschrieben wird, ist dein 45 Tage langer Aufenthalt in einem Gefängnis in Aleppo. Während du davon berichtest, bleibt der Bildschirm schwarz. Ich kann mir vorstellen, dass es schwer war, für diese Erfahrung Bilder zu finden.

Lina: Ja, es war eine Herausforderung, dafür die passende filmische Sprache zu finden. Zunächst bringt dir diese Erfahrung viel über das Leben und das menschliche Wesen bei. Menschen sind fähig, das Gute, aber auch das Schlechte zu tun. Die Erfahrung kann dich einerseits bescheiden werden lassen, dich andererseits aber auch ermächtigen. In jedem Fall ist es eine lebensverändernde Erfahrung, die du niemals vergessen wirst. Und jedes Mal, wenn ich daran zurückdenke, denke ich an die anderen, dauerhaften politischen Häftlinge. Ich war dort nur 45 Tage. Es gibt Menschen, die dort seit mehr als 10 Jahren gefangen gehalten werden.

Kultur Joker: Ein kaum vorstellbares Leid.

Lina: Es wundert mich, wie die Welt das einfach akzeptiert, weitermacht und beginnt, sich wieder mit dem Regime zu arrangieren. Nach der Art: „Uns langeweilt das alles. Solange ihr keine neuen, interessanten Wege findet zu sterben, seid ihr keine Berichterstattung wert.“ Erst nach den Erdbeben war Syrien wieder für eine Woche in den News. Die Sache hat etwas unbegreiflich Banales. Aber ich hatte auch genug Zeit, um etwas Abstand dazu zu gewinnen. Ich glaube, der Mensch kann sich nur bis zu einem gewissen Punkt um all das sorgen, was auf dem Planeten passiert. Gleichzeitig stört mich die politische Instrumentalisierung dessen oder wie die Medienindustrie sich das zu Nutzen macht. Gerade als Journalistin stört mich, wie unprofessionell oder politisiert bis heute über manche Dinge berichtet wird.

Kultur Joker: Dein Film berichtet an vielen Stellen sehr ungewöhnlich, eben intim über manche Ereignisse. Gegen Ende gibt es eine fast surreale Szene in einem weißen Damaskus. Ihr spielt Schneeballwerfen und scheint eine wirklich gute Zeit zu haben. Welche Bedeutung hat diese Szene für dich?

Lina: Wir brauchten Zeit zum Durchatmen. Wir, die Figuren und wahrscheinlich auch das Publikum. Viele Szenen, die es leider nicht in den Film geschafft haben, zeigen uns beim Spaßen, wie wir uns necken, schwarzhumorige Witze reißen, über die ganze Situation lachen. Diese Momente waren für uns extrem wichtig, um Energie zu tanken, Vertrauen aufzubauen, nicht verrückt zu werden. Die Schneeballszene steht symbolisch dafür. Die ungewöhnliche Situation, dass es in Damaskus schneit, bot mir zudem die Möglichkeit, mitten am Tag die Kamera auspacken zu können, ohne darüber ausgefragt zu werden.

Kultur Joker: Damaskus hat für dich eine besondere Bedeutung. Vor allem zeigst du dich im Film aber enttäuscht über die Stille in der Stadt, die fehlenden Proteste.

Lina: Im Film spreche ich über meine Wut, aber auch meine Scham. Wir waren beschämt, dass es uns nicht gelungen ist, mit unseren Protesten die Hauptstadt zu erreichen. Das wäre das Wichtigste gewesen. Es gab den Moment, in dem das Regime über 70 Prozent des Landes die Kontrolle verloren hatte. Solange es aber die strategische Kontrolle über das behielt, was es selbst als „das nützliche Syrien“ bezeichnete, also die Hauptstadt, das Gebiet um Homes, wo die meisten Öl-Raffinerien stehen und die Küste, wo der Export vor allem von Öl und Gas stattfindet – solange es darüber Kontrolle behielt, war der Rest des Landes zu vernachlässigen. Hätte das Regime die Kontrolle über die Hauptstadt verloren, wäre es gefallen.

Kultur Joker: Das klingt nach einem naheliegenden Erfolg.

Lina: Das Regime ist stark zentralisiert – wie viele Diktaturen. Deshalb ist die Stadt aber auch wie keine andere syrische Stadt durch die Polizei geschützt. In jeder Nachbarschaft haben Sicherheitsdienste ihren Sitz. Um die Stadt ist die Armee in Baracken stationiert. Ein Protest ist sehr riskant. Dennoch glaubten wir zu Beginn der Revolution, dass wir das Recht hatten, die Menschen dort wegen des ausbleibenden Widerstands anzuklagen. Zu Anfang nahm das Regime noch an, die Zustimmung in Damaskus nicht zu verlieren und agierte deshalb weniger gewalttätig gegenüber Demonstrierenden innerhalb von Damaskus. Man lief also weniger in Gefahr, beim Protestieren getötet zu werden als in anderen Städten. Mit etwas Abstand realisierten wir aber, dass diese Anklage einem sehr jugendlichen Denken entsprang, das noch einen anderen Begriff von Tapferkeit hat. Aber ja, bald wurde die Gewaltanwendung in Damaskus vergleichbar mit der in anderen syrischen Städten.

Kultur Joker: Eine deiner Aussagen im Film bleibt besonders hängen: „Good guys don’t win wars“ – die Guten gewinnen keine Kriege. Was meinst du damit?

Lina: Kriege werden nicht mit guten Absichten geführt. Kriege werden mit Strategien, finanzieller Förderung und Waffen geführt. All diese Mittel stehen den Guten nicht so einfach zur Verfügung. Das Geld, um gegen eine Armee zu kämpfen, bekommt man wahrscheinlich nicht aus den Händen uneigennütziger, demokratischer Menschen. Menschen, die dich derart unterstützen, sind Sponsor:innen, sie verlangen Loyalität. Sie geben dir, weil es ihnen nutzt, nicht weil sie wollen, dass du in einem demokratischeren Land lebst. Darum ging es, als diskutiert wurde, ob die Revolution friedlich oder bewaffnet weitergehen sollte.

Kultur Joker: Ein Dilemma.

Lina: Ja. Es geht nicht nur darum, ob du töten sollst oder nicht. Es geht auch darum, dass du nicht einfach die Ressourcen haben kannst, gegen eine staatliche Armee zu kämpfen und gleichzeitig unabhängig bleiben kannst. Wer aus Verzweiflung eine Waffe in die Hand genommen hat, um sich und andere zu schützen, musste quasi einen Pakt mit dem Teufel schließen. In Folge spaltete sich die bewaffnete Opposition, unausgebildete Menschen nahmen eine Waffe in die Hand, die Situation wurde zu einem Chaos, das nicht mehr zu kontrollieren ist. Die Menschen, die zu Beginn gute Absichten hatten, verloren entweder ihre Kämpfe und starben oder zogen sich zurück, wenn sie konnten, oder wurden von der Maschine verschlungen.

Kultur Joker: Kein einfaches Fazit. Ich wünsche dir trotz alledem alles Gute, Lina, und danke dir für die Einblicke.

„5 Seasons Of Revolution“ ist am 2./3. Juni im Rahmen des Bildrausch Filmfests in Basel zu sehen (kult.kino). Im Anschluss findet ein Gespräch mit der Regisseurin statt.

Bildrausch Filmfest Basel

Mittwoch, 31.05.
20.15 Uhr: „After“, Anthony Lapia (Stadtkino)
20.15 Uhr: „The Etilaat Roz“, Abbas Rezaie (kult.kino)

Donnerstag, 01.06.
15:00 Uhr: „Mitsuki, Sekai“, Marina Tsukada (kult.kino)
19.45 Uhr: „So Much Tenderness“, Lina Rodríguez (kult.kino)

Samstag, 03.06.
15.30 Uhr: „Revision“, Philip Scheffner (Stadtkino)
21.30 Uhr: „A Date In Minsk“, Nikita Lavretski (Stadtkino)

Sonntag, 04.06.
15.00 Uhr: „Seven Winters in Teheran“, Steffi Niederzoll (kult.kino)
14.00 Uhr: „Iron Butterflies“, Roman Liubyi (Stadtkino)

Weitere Infos und Filme: www.bildrausch-basel.ch

Bildquellen

  • Die Regisseurin Lina: © No Nation Films / Piraya Film / Docmakers