Im Gespräch: Dr. Gregor Gysi, Politiker, Jurist, Autor

Vom Vorsitz der SED-Nachfolgepartei PDS zum Fraktionsvorsitz der Linken bis zum Amt des außenpolitischen Sprechers der Partei. Gregor Gysi gilt als einer der profiliertesten linken Politiker des Landes und als unnachgiebiger Kritiker des politischen Mainstream. Unter dem Titel „Demokratie – verunsichert“ kommt der Politiker am 29. April über Livestream nach Freiburg. Gegenstand des Gesprächs sind Populismus, die wachsende Attraktivität autoritärer Systeme und eine Demokratie im Krisenzustand. Redakteur Fabian Lutz hat mit Gregor Gysi im Februar über all diese Probleme gesprochen, nach Ursachen wie Lösungen gefragt und warum Ignoranz und Vermeidung zu den großen Fehlern der Politik in Deutschland gehören.

Kultur Joker: Herr Dr. Gysi, das Freiburger Gespräch mit Ihnen steht unter dem Titel „Demokratie – verunsichert“. Was verunsichert Sie in letzter Zeit?

Dr. Gregor Gysi: Nach Umfragen stehen 20 Prozent der Bevölkerung den Corona-Maßnahmen der Regierung grundsätzlich skeptisch gegenüber. 80 Prozent nehmen die Einschränkungen ihrer Grundrechte im Zuge der Maßnahmen mehr oder weniger hin. Bei den 20 Prozent verunsichert mich das tiefe Misstrauen, denn egal, was die Politik anbietet, es wird beim Misstrauen bleiben. Bei den 80 Prozent fürchte ich die Bereitschaft, auch nach der Pandemie vergleichbare Einschränkungen der Grundrechte hinzunehmen.

Kultur Joker: Sehen Sie die Gefahr eines Machtmissbrauchs durch die Regierung?

Gregor Gysi: Die Herrschenden wissen mittlerweile, dass es eine große Akzeptanz für die Einschränkung von Grundrechten innerhalb der Bevölkerung gibt, bei einer plausiblen oder plausibel erscheinenden Begründung. Ich hoffe sehr, dass das nicht zu einem Machtmissbrauch führt. Mich besorgt auch, dass die Bundesregierung in der Corona-Krise fast alles allein entscheidet. Der Bundestag wird viel zu wenig einbezogen.

Kultur Joker: Das ist der gängige Vorwurf der Opposition im Bundestag. Welches Handeln empfehlen Sie der Bundesregierung?

Gregor Gysi: Die Bundesregierung gibt uns keine Perspektive. Es wird nur immer wiederholt, dass die Corona-Maßnahmen um einige Wochen verlängert werden. Wir brauchen endlich einen Stufenplan, an dem die schrittweise Wiederherstellung der Grundrechte für die Bevölkerung sichtbar wird.

Kultur Joker: Das ist eine konstruktive Kritik. Die populistischen Anti-Corona-Parolen der AfD oder außerparlamentarischer Proteste scheinen die Sorgen der oben genannten 20 Prozent aber besser einzufangen. Wie funktioniert Populismus?

Gregor Gysi: Populismus ist zum Beispiel, wenn man verkündet, man könne etwas entscheiden, obwohl man die Mittel und Kompetenzen dazu nicht hat. Wenn ein Politiker verkündet, er könne als Ministerpräsident die Renten in Ost und West angleichen, kommt er bei vielen Rentnern und Rentnerinnen im Osten gut an. Die Sache ist nur: Als Ministerpräsident kann er das gar nicht entscheiden. Zum Populismus gehört auch, alle Herausforderungen und Hindernisse auf dem Weg zu ignorieren. Wenn die AfD versucht, sich bei Corona-Leugnern beliebt zu machen, blendet sie die Fakten zum Coronavirus und den Folgen der Pandemie einfach aus.

Kultur Joker: Für die Partei ein sicheres Erfolgsrezept.

Gregor Gysi: Nein, zumindest nicht auf Dauer. Die Bevölkerung ist nicht dumm. Irgendwann fühlt sie sich hereingelegt und entwickelt ein zunehmendes Misstrauen – nicht nur gegenüber einer Partei, sondern gegenüber der gesamten Politik.

Kultur Joker: Und darauf steigen populistische Politiker*innen wieder ein…

Gregor Gysi: Natürlich. Die Populisten weisen die Schuld immer den anderen Parteien und Politikern zu. Für eine Weile funktioniert das vielleicht, aber nicht auf lange Zeit. In meinen Augen ist der Populismus letztlich zum Scheitern verurteilt.

Kultur Joker: Am Ende dieses Misstrauensszenarios stünde also das Versagen aller Parteien und der Politik, der keiner mehr traut.

Gregor Gysi: Ja, und diesen Zustand haben wir bereits. Einige Teile der 20 Prozent trauen auch der AfD nicht mehr – und auch nicht den Linken und erst recht nicht der Union. Die sind mit der sogenannten „etablierten Politik“ fertig. Die AfD inszeniert sich in Reaktion darauf als ausgegrenzte Partei, aber auf Dauer wird sie damit auch keinen Erfolg haben.

Kultur Joker: Bedeutet das in letzter Konsequenz eine Verlagerung der Politik vom Parlament auf die Straße?

Gregor Gysi: Ja, damit müssen wir rechnen. Und das passiert, weil sich die herrschende Politik viel zu wenig Gedanken darüber macht, warum sie das Vertrauen dieser 20 Prozent verloren hat. Würde sie das tun, müsste sie auch über Wege nachdenken, wie sie das Vertrauen zurückgewinnen kann. Aber das macht sie nicht, denn 80 Prozent Zustimmung reichen ihr.

Kultur Joker: Das klingt nach Desinteresse.

Gregor Gysi: Politiker und Politikerinnen sind meist unter sich. Meist gehen sie nur auf das ein, was andere Parteien innerhalb des Bundestags an ihnen kritisieren. Mit der Unsicherheit in der Bevölkerung setzen sie sich seltener auseinander.

Kultur Joker: Haben Sie ein Beispiel?

Gregor Gysi: Die Politik hat während der Corona-Krise scheinbar erkannt, wie wichtig die Tätigkeiten der Verkäuferinnen, Krankenschwestern, Pflegenden und Beschäftigten in der Logistik sind. Aber glauben Sie ernsthaft, dass diese Gruppen nach der Pandemie 50 Prozent mehr Lohn erhalten, nur weil ihre Bedeutung erkannt wurde? Die bekommen Lob und ein Lutschbonbon zugeworfen! Dass man hier aber grundsätzlich Schlussfolgerungen zieht und zum Beispiel sogenannte „Frauenberufe“ abschafft, also Berufe, die so schlecht bezahlt sind, dass wir Männer sie meiden, passiert nicht. Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel. Die Politik hat in der Corona-Krise scheinbar erkannt, dass die Privatisierung von Krankenhäusern ein Fehler ist und dass die Gesundheit an erster Stelle stehen sollte. Trotzdem wurden während der Pandemie Krankenhäuser geschlossen oder weiter privatisiert. Diese Ignoranz gegenüber der Bevölkerung und der eigenen politischen Verantwortung ist abenteuerlich!

Kultur Joker: Soweit die Problemdiagnose. Haben Sie eine Methode, diesem „Unter sich bleiben“ im Bundestag zu begegnen?

Gregor Gysi: Ich versuche immer zu übersetzen. Wenn eine dreiviertel Stunde lang von der „Veräußerungserlösgewinnsteuer“ gesprochen wird, komme ich ans Pult und erkläre erst einmal, was damit überhaupt gemeint ist. Das habe ich als Anwalt gelernt. Als Anwalt habe ich hochgebildete Menschen vertreten, aber auch solche, die nicht hochgebildet waren und solche, die weder lesen noch schreiben konnten.

Kultur Joker: Ein Versuch, wie der klassische Politiker zu agieren, der das Volk in seiner Breite repräsentiert?

Gregor Gysi: Viele Politiker und Politikerinnen im Bundestag sprechen in ihrer eigenen Sprache und merken gar nicht, wenn ein größerer Teil der Bevölkerung nicht mehr folgen kann. Hier verstehe ich mich als Übersetzer. Und wissen Sie, ich habe noch eine ungewöhnliche Eigenschaft: Ich lüge nicht.

Kultur Joker: Das glaube ich Ihnen nicht.

Gregor Gysi: Ich kann gar nicht lügen, weil ich mir Lügen nicht merken kann. Wer erfolgreich lügen will, muss sich seine Lügen merken können. Da ich sie am nächsten Tag schon vergessen hätte, geht es nicht. Deshalb sage ich die Dinge so, wie ich sie denke.

Kultur Joker: Und das ist für Politiker*innen ungewöhnlich?

Gregor Gysi: Schon. Viele Politiker und Politikerinnen haben diese Merkfähigkeit. Die müssen sich ein ganzes Konstrukt aufbauen und das ist schwierig. Die meisten Menschen schätzen aber, dass ich diese Fähigkeit nicht habe. Und die meisten Menschen sind überrascht. Sie erwarten stereotype Aussagen, die sie von mir aber nur selten bekommen.

Kultur Joker: Wir sprechen gerade viel über Sprache und Lügen. Womit wir wieder beim Populismus wären.

Gregor Gysi: Mit einfachen Sätzen kann man auch gut populistische Politik machen. Direkt lügen sollte man aber nicht. Erfolgreiche populistische Aussagen können vereinfachen, sollten aber nicht falsch sein. Das merken die Leute dann doch. Es gibt einen Unterschied zwischen populistisch und populär.

Kultur Joker: Was wären die ersten Schritte, die eine Politik tut, die den Menschen nicht belügt, sondern ernst nimmt?

Gregor Gysi: Sie würde zuerst versuchen, die Menschen zu verstehen. Wenn die alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin mit zwei Kindern das Gefühl hat, dass ihre Probleme weder in dieser noch in einer kommenden Legislaturperiode gelöst werden, geht sie davon aus, dass es ihr nie besser gehen wird. Sie wird auch glauben, dass es ihren Kindern nie besser gehen wird. Sie denkt, dass es egal ist, wer reagiert, denn für sie würde sich nichts bessern. Deshalb geht sie nicht wählen. Man muss dieses Denken erkennen und verstehen, um ihm einigermaßen wirksam begegnen zu können.

Kultur Joker: Haben Politik und Medien nicht auch Angst, sich mit politikverdrossenen Menschen auseinanderzusetzen?

Gregor Gysi: Ja. Nehmen wir die Medien als Beispiel. Die Gegner der Corona-Politik sieht man in Talkshows fast nie. Es gibt ja auch Virologen neben Christian Drosten, die es anders sehen. Deshalb bleiben die Menschen auch bei ihrem Eindruck, die Medien seien gleichgeschaltet. Früher war das Klima in solchen Gesprächsrunden anders. Da kamen Vertreter mit den unterschiedlichsten Argumenten zusammen. Am Ende mussten sich die Zuhörer und Zuhörerinnen selbst eine Meinung bilden. Das trauen sich die Medien heute nicht mehr. Sie haben Angst, dann selbst als Corona-Leugner wahrgenommen zu werden. Und auch die Politik hat Angst. Die Erstürmung des Bundestags und die viel schlimmere des amerikanischen Capitols haben auch das Gefühlsleben und die Denkweise der Politiker und Politikerinnen verändert.

Kultur Joker: Der Angst der Politik und der Medien steht die „Sehnsucht nach einem starken Staat“ gegenüber, wie sie einige Teile der Bevölkerung äußern und wie sie auch der Pressetext zu Ihrer Veranstaltung konstatiert. Woher kommt diese Sehnsucht?

Gregor Gysi: Das Denken in autoritären Strukturen nimmt weltweit zu. Das liegt womöglich daran, dass die Menschen glauben, dass autoritäre Strukturen effizienter sind. Erdoğan kündigt etwas an, das zwei Wochen später umgesetzt wird. In der Bundesrepublik wird vorher zwei Jahre darüber gestritten. Was all die Befürworter aber vergessen: Einen Diktator werden sie nicht mehr los. Auch, wenn er Dinge tut, die sie nicht wollen. Überhaupt muss man bedenken, dass nur eine Minderheit der Menschheit in demokratischen Strukturen lebt. Die Mehrheit kennt nur autokratische Systeme.

Kultur Joker: In Ihrer Rede im Bundestag am 10. Februar sagten Sie zum aktuellen Verhältnis der Bundesrepublik zu Russland: „Wenn man aber auf Sanktionen verzichtete und eine Politik der Annäherung betriebe, könnte man viel leichter auch humanistische Akte erreichen.“ Lässt sich daraus generell ein Umgang mit autoritären Systemen ableiten – ein humanistischer?

Gregor Gysi: Nach dem Mauerbau hat die Sozialdemokratie begriffen, dass ein Wandel in der DDR nur durch Annäherung funktionieren kann. Und das hat funktioniert, wenn auch in kleinen Schritten. Diese Denkweise ist heute völlig verschwunden. Man denkt nur noch an Sanktionen. Der Gegenüber denkt dann wiederum an Gegensanktionen und schottet sich immer mehr ab. Und das ist kreuzgefährlich. Daher sage ich: Wir müssen wieder eine Politik des Wandels durch Annäherung betreiben – zumindest dort, wo Chancen bestehen. Auch wird übersehen, dass die Sanktionen der EU gegenüber Russland und China beide nur näher zusammenrücken lässt. Je stärker beide Länder werden, desto schwächer werden westliche Demokratien.

Kultur Joker: Dieses Jahr erscheint ihr Buch „Gysi vs. Sonneborn. Kanzlerduell der Herzen“. Inwiefern sehen Sie gerade in einem Politsatiriker wie Martin Sonneborn ein gutes Gegenüber, um über eine „linke Wende“ zu streiten, wie der Pressetext verkündet.

Gregor Gysi: Erst dachte ich, dass uns Martin Sonneborn nur die jungen Wähler wegnimmt. Aber das stimmt nicht. Sonneborn hat nur einen anderen Stil, um junge Leute an Politik heranzuführen. Seine politische Satire kommt bei ihnen sehr gut an – ebenso wie die von Jan Böhmermann. Auch wenn man diese Methode nicht beherrscht, muss man sie akzeptieren. Wir haben oft erlebt, dass Leute zuerst zu Die Partei kamen und danach doch zur Linken.

Kultur Joker: Kunst und Kultur sind aber nicht nur Wege zur Politik.

Gregor Gysi: Natürlich nicht. Beide sind systemrelevant, selbst wenn das die Bundesregierung während der Pandemie anders sieht. Wissen Sie, Künstlerinnen und Künstler und Kulturschaffende bleiben stärker in Erinnerung als jene, die heute an der Macht sind oder meinen, besonders wichtig zu sein. Alle kennen Bach und Beethoven. Wer zu deren Zeit politisch relevant war, wissen heute dagegen nur wenige. Kunst und Kultur haben einen bleibenden Wert. Politik kommt und geht, kann aber auch verändern.

Kultur Joker: Herr Dr. Gysi, vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch mit Dr. Gregor Gysi am 29. April, 19.30 Uhr findet in Kooperation mit der Katholischen Akademie Freiburg und als Online-Veranstaltung statt. Weitere Informationen und Anmeldung: www.katholische-akademie-freiburg.de

Bildquellen

  • Dr. Gregor Gysi: DIE LINKE im Bundestag