Im Gespräch: Dieter Glogowski, Fotojournalist

Die Landschaft, die Weite, die Stille

Die Journalisten Andrea Nuß, Dieter Glogowski und Stefan Rosenboom haben sich in Deutschland, den Alpen, Italien, Norwegen, Georgien, auf der Sinai-Halbinsel, in Nepal und Japan den Strapazen der Pilgerschaft ausgesetzt. Mit ihrer Live-Reportage „Unterwegs auf den Pilgerwegen der Welt“ werden sie am 8. Februar 2020 um 16 Uhr auf dem Mundologia-Festival im Konzerthaus Freiburg zu Gast sein und auf der Bühne von ihren Erlebnissen berichten. Im Interview spricht Dieter Glogowski über Einsamkeit, Verzicht und die Schönheit der Landschaften.

Kultur Joker: Was ist der Unterschied zwischen Pilgern und Wandern?

Glogowski: Das klassische Pilgern hat eine spirituelle Ebene. Man folgt einem Pfad, den Menschen seit vielen Jahrhunderten zu einem bestimmten Ziel gehen, meist heilige Stätten. Manche laufen auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela oder nach Assisi, andere, so wie wir, auf dem Olavsweg nach Trondheim zum Nidarosdom. Meist gibt es auch einen Grund zu pilgern, eine persönliche Veränderung oder ein Schicksalsschlag. Unterwegs möchte man in die Stille kommen. Letztendlich ist das Pilgern, auch wenn man ein Ziel hat, immer ein Weg zu sich selbst.

Kultur Joker: Wie haben Sie die Pilgerwege ausgesucht?

Glogowski: Meine Frau Andrea Nuß und ich haben uns Pilgerwege ausgesucht, die nicht so hoch frequentiert sind wie der Jakobsweg, dem jedes Jahr 300.000 Menschen folgen. Wir waren unter anderem auf dem Olavsweg, der von Oslo nach Trondheim führt. Dort sind jährlich nur 850 Menschen unterwegs. Es gibt insgesamt acht Olavswege, die aus allen Himmelsrichtungen nach Trondheim führen. Diesen September waren wir auf dem Østerdalenweg, ebenfalls einer der Olavswege, von der schwedischen Seite aus. Der ist perfekt ausgeschildert, alle zwei- bis dreihundert Meter sieht man ein Zeichen, sodass man sich dem Weg ganz entspannt hingeben und seinen Gedanken nachgehen kann. Auch dort trifft man kaum auf andere Menschen. Gerade einmal 50 Pilger sind hier im Jahr unterwegs.

Kultur Joker: Sie sind zusammen auch auf der Sinai-Halbinsel gewesen. Was haben Sie dort erlebt?

Glogowski: Andrea ist schon unzählige Male im Sinai gewesen. Sie leitet da seit vielen Jahren ein Hilfsprojekt mit dem Namen „Frauen helfen Frauen“. Es ermöglicht 75 Beduinenfrauen durch die Herstellung von Schmuck aus Rocaille-Glasperlen zum Familieneinkommen beizutragen.
Als wir zusammen dort waren, wollten wir ursprünglich 330 Kilometer mit Kamelen auf den Spuren des Alten Testaments zu historischen Plätzen reisen. Wegen der Präsidentschaftswahlen hat die ägyptische Regierung dann aber alle Wüsten gesperrt. Es gab einen großen Antiterroreinsatz. Über fünf Wochen konnten wir uns nur in einem Umkreis von 20 Kilometer am Mosesberg aufhalten. Wir waren in sehr engem Kontakt mit den Menschen und haben zwei Wochen lang auf über 2000 Meter Höhe in einem 3000 Jahre alten Garten bei einer Einsiedlerin gelebt.

Kultur Joker: Hat das Pilgern Sie verändert?

Glogowski: Ich denke, man kann sehr viel dabei lernen. Franziskus von Assisi spielt für uns da eine sehr große Rolle. Er ist in die Fußstapfen von Jesus getreten, ist zu den Schwachen an den Rand der Gesellschaft gegangen und hat in Armut gelebt. Wir haben uns mit dem Thema Verzicht beschäftigt. Ich denke, solange Verzicht negativ besetzt ist, besteht die Gefahr, dass wir die Welt zugrunde richten. Wir sollten stattdessen lernen, auf Dinge, die wir haben können, bewusst zu verzichten ohne dabei negative Gefühle zu entwickeln. Als wir von dem Pilgerweg nach Assisi zurückgekommen sind, ging das Auto von Andrea kaputt. Wir haben es verschrottet und nicht ersetzt. Wir versuchen auch unsere Flug-reisen drastisch einzuschränken und wenn es sich nicht vermeiden lässt, kompensieren wir die dabei entstandenen klimaschädlichen Emissionen, mit atmosfair zum Beispiel. Nach Norwegen sind wir zwei Tage mit dem Zug gefahren und bekamen dabei wieder ein Gefühl für die Distanz von 2200 Kilometer.

 

Kultur Joker: Wie viel Gepäck haben Sie auf Pilgerschaft dabei?

Glogowski: Wir reisen heute mit so wenig wie möglich, hatten beim letzten Mal nur sieben Kilo zu tragen: Ein wasserfester Rucksack, kleine Sucherkameras, Schlafsäcke, hauchdünne Isomatten, Regenkleidung, Wechselunterwäsche. Auch zuhause wollen wir mit weniger auskommen. Wir haben ein großes Haus, dass wir gerade zu einer Lebensgemeinschaft umfunktionieren. Langfristig überlegen wir, ob wir in unsere Holzhütte im Taunus ziehen. Sie liegt in einem Naturschutzgebiet, hat drei Zimmer und eine Terrasse.

 

Kultur Joker: Sie alle waren gemeinsam aber auch alleine auf Pilgerwegen unterwegs.

Glogowski: Ja, einmal auch ungeplant alleine. Ich hatte mich am Rücken verletzt und musste zum ersten Mal in meinem Leben eine Tour abbrechen. Andrea ist dann 15 Tage lang alleine auf dem Østerdalenweg unterwegs gewesen. Jeden Abend kam sie an ein Blockhaus, hat es geöffnet, Feuer gemacht, hat ihre Sachen getrocknet, gegessen und am nächsten Tag ging es weiter. 15 Tage lang hat sie kaum einen Menschen getroffen. Es gab eine Passage von drei und eine von vier Tagen, in denen sie niemanden gesehen hat. Das ist eine unglaubliche Erfahrung, in der sehr viel Kraft steckt. Wer von uns kennt das heute noch, war schon mal ein paar Tage für sich, ganz alleine?

Kultur Joker: Sollte man also am besten alleine pilgern?

Glogowski: Das ist aus meiner Sicht das Beste. Wenn man alleine läuft, ist man vollkommen frei in seinen Gedanken, man muss auf nichts reagieren, kann sich richtig einlassen. Es gibt sehr viele organisierte Pilgerreisen, bei denen man in der Gruppe unterwegs ist. Wenn wir denen begegnet sind, war das immer ein riesiges Geschnatter, du hörst sie schon in 800 Meter Entfernung. Da ist man die ganze Zeit abgelenkt und kann nicht zu sich kommen.

Kultur Joker: Das wäre dann mehr eine Gruppenwanderung als eine Pilgerreise?

Glogowski: Es gibt Leute, die wollen gerne die Alpen durchqueren. Die suchen sich über den Alpenverein eine Gruppe mit bis zu zwölf Personen und laufen dann gemeinsam los. Einige suchen bewusst die Gesellschaft, andere trauen sich nicht alleine. Beim Pilgern sollte man maximal zu zweit unterwegs sein.

Kultur Joker: Wie war das bei Ihnen und Ihrer Frau? Haben Sie unterwegs viel geschwiegen oder sich zumeist unterhalten?

Glogowski: Ich würde Paaren empfehlen, alle drei Tage alleine zu gehen. Dafür muss einfach einer eine halbe Stunde früher loslaufen. Am Abend trifft man sich wieder und kann sich austauschen. An den anderen Tagen, wenn wir zusammen sind, stellen wir uns eine kleine spirituelle Aufgabe. Man sollte sich vielleicht auch ein schönes Buch mitnehmen. Wir hatten auf einem Weg „Eine neue Erde“ von Eckhart Tolle dabei.

Kultur Joker: Wie hat die Landschaft auf Sie gewirkt?

Glogowski: In Norwegen waren wir im Herbst unterwegs, im „Indian Summer“. Es ist die niederschlagärmste Zeit, nicht eine Mücke hat uns gequält. Die Farben der Moose und Flechten sind großartig – weiß, gelb rot. Die Birken sind gelb. Die Landschaft, die Weite, die Stille. Die Schönheit und das Gefühl sind kaum zu beschreiben. In Italien läuft man auch durch alte Nationalparks, aber es kommt auch immer wieder eine Straße. Die Übernachtungsstätten sind ganz anders, sehr komfortabel, die italienische Küche ist gut. In Norwegen ist man mehr auf sich gestellt, übernachtet in einem 800 Jahre alten Blockhaus, isst alleine, sitzt am See und schaut aufs Wasser.

Kultur Joker: Das klingt alles sehr idyllisch, gab es auch brenzlige Situationen?

Glogowski: Als Andrea alleine im Dovrefjell Nationalpark in Norwegen unterwegs war, eine karge Landschaft auf 1100 Metern Höhe, schlug das Wetter plötzlich um. Gerade schien noch die Sonne, dann zogen Wolken auf und ein Schneesturm fegte über sie hinweg. Sie konnte keine 50 Meter weit sehen, der Schnee flog ihr ins Gesicht. Innerhalb kurzer Zeit war alles mit einer 20 Zentimeter dicken Schneedecke bedeckt. Auch kleine Bäche und Teiche waren überzogen und nicht mehr zu erkennen. Sie musste sich gut orientieren, um die Hütte zu finden. Für sie war es aber nicht wirklich eine gefährliche Situation. Sie ist sehr erfahren, war viel im Gebirge unterwegs und hat schon oft draußen übernachtet.

Kultur Joker: Was ist das Besondere am Pilgern in Asien?

Glogowski: Im Hinduismus wird das Leben in vier Stadien eingeteilt, Ashramas genannt. Im ersten Lebensabschnitt ist man Schüler, im zweiten gründet man eine Familie und geht den Geschäften nach. Im Dritten, wenn der Bart weiß wird, die Augenbrauen buschig und das erste Enkelkind auf die Welt gekommen ist, sollte man seine Geschäfte auf die Kinder übertragen und mit seinem Partner auf Pilgerreise gehen. Diesen Abschnitt versäumen wir im Westen zumeist.

Kultur Joker: Sind Sie auch sehr gläubigen Menschen begegnet?

Glogowski: Ja, in jedem Land. In Nepal war ich mit einem 90-jährigen Sadhu, einem Bettelmönch, gemeinsam auf dem Weg nach Muktinath, einem Wallfahrtsort auf fast 4000 Meter Höhe. Ein einzigartiger Ort, an dem alle fünf Elemente zu finden sind. Es gibt dort eine Wasserquelle unter einem Felsen und gleichzeitig eine Erdgasquelle. Eine Flamme tänzelt auf dem Wasser, alles Gegensätzliche in einem Punkt.

Kultur Joker: Durch die nepalesische Bergkulisse zu wandern, muss großartig sein.

Glogowski: Ich bin schon 16 Mal in meinem Leben in Muktinath gewesen. Auf dem Weg dorthin läuft man durch das tiefste Durchbruchstal der Welt, das Kali-Gandaki-Tal. Es liegt zwischen zwei Achttausendern, dem Dhaulagiri im Westen und dem Anapurna im Osten. Die beiden Gipfel sind etwa 32 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Einer der vier großen Flüsse Nepals, die Kali Gandaki, fließt hindurch. Eine gigantische Berglandschaft, in der man sich winzig klein fühlt. Man wird innerlich ganz ruhig und ausgeglichen.

Kultur Joker: Was war die lustigste Situation, an die Sie sich erinnern?

Glogowski: Als ich mit meinem Sadhu, meinem Yogi, in Nepal unterwegs war…

Kultur Joker: Was meinen Sie mit „meinem Sadhu“? Kennen Sie ihn schon lange?

Glogowski: Ja, mit ihm war ich schon am Kangchendzönga. Ich kenne alle Sadhus, die in der Tempelstätte in Kathmandu wohnen seit 30 Jahren. Das ist ganz familiär. Eigentlich gibt es nur drei Fotojournalisten weltweit, die sich auf die Himalayaregion spezialisiert haben. Neben mir sind das der Franzose Éric Valli und Olivier Föllmi aus der französischen Schweiz. Wir können auf alte Freundschaften zurückgreifen, auf vertraute Beziehungen.
Jedenfalls hat jeder dieser Sadhus ein Vorleben. Sie haben ihren Beruf aufgegeben, die Verbindung zu ihrer Familie gekappt und leben seitdem als Bettelmönche. Unter ihnen gibt es ehemalige Bankdirektoren, Lehrer, Tagelöhner, Bauern. Im Hinduismus kann man sich in jedem Moment seines Lebens dazu entscheiden, alles aufzugeben. Dann zieht man ein gelbes Gewand an und lebt asketisch. Der Sadhu, mit dem ich unterwegs war, ist früher Elektriker gewesen. Ich hatte gefilmt und dafür das Smartphone an einem Gimal befestigt, einem Handkamerastabilisator. Ich hatte den Akku nicht im Blick gehabt, der war dann leer und ich ganz verzweifelt. Da griff er in seine Tasche, zog eine Powerbank hervor und meinte: „Dieter, so was sollte man immer dabei haben“. Er hatte immer noch einen Bezug zu seinem alten Beruf, hatte sich auch immer dafür interessiert, wie meine Kameras funktionieren.

Kultur Joker: Was haben Sie in Italien für Erfahrungen gemacht?

Glogowski: In den italienischen Kirchen brummt es. Da rennen die Kinder rum, sie dürfen auch laut sein, jeder mag Kinder, alles ist sehr relaxed. Die Franziskanermönche haben uns auch sehr beeindruckt. Es sind unglaublich fröhliche, lebensbejahende, lustige, hilfsbereite, höfliche und amüsante Menschen. Religionen sind im Grunde nur Krücken. Die Mystiker, darunter der Perser Rumi, Johannes vom Kreuz oder Meister Eckart, denken, dass alles sich in einem zusammenfindet. Der Dalai Lama sagt: „It’s all the same“. Es geht immer um Liebe und Mitgefühl.

Kultur Joker: Was erwartet die Zuschauer in Ihrem Vortrag?

Glogowski: Wir sind insgesamt in acht verschiedenen Destinationen unterwegs gewesen und haben den Vortrag entsprechend in acht Kapitel gegliedert. Andrea lebt seit 25 Jahren immer wieder für eine gewisse Zeit in der Wüste, sie hat die Sahara durchquert, spricht die Sprache der Beduinen perfekt. Sie wird von den Eindrücken auf der Sinai-Halbinsel berichten. Ich spreche über das Pilgern in Nepal. Und gemeinsam erzählen wir von unseren Erlebnissen auf dem Olavsweg und dem Franziskusweg. Stefan Rosenboom ist Fotograf der Leica Akademie MasterClass und Fotokünstler und lädt das Publikum mit seinen poetischen Schwarzweiß-Bildern von Pilgerwegen in Deutschland, Tirol, Japan und Georgien sowie kurzen, lyrischen Texten zum Träumen ein. Es ist ein sehr inspirierender Vortrag. Am Ende muss natürlich jeder seinen eigenen Weg finden und gehen.

Das Buch zum Vortrag: „Pilgern – Wege der Stille“
Im September 2019 erschien im Verlag Frederking & Thaler der Bildband „Pilgern – Wege der Stille“. Das Buch widmet sich den schönsten Pilgerwegen der Welt und enthält Fotos und Beiträge von Dieter Glogowski, Stefan Rosenboom, Andrea Nuß und Johannes Schwarz. Es ist auch auf dem Mundologia-Festival erhältlich, auf Wunsch signiert.

Bildquellen

  • Pilgern Glogowski Rosenboom Nuss 11: Mundologia