Ich geh‘ heut nicht mehr tanzen: Ein Kommentar zum derzeitigen Konflikt zwischen Stadt, Anwohner:innen und (sub)kulturellen Gruppen

Am Anfang dieses Artikels steht eine Frage, die sich jeder Mensch, der diese Zeilen liest, am Ende selbst beantworten darf: Was bedeutet urbanes Leben? Diese Frage stellten sich vor uns schon viele, darunter Wissenschaftler:innen und Philosoph:innen, die die Stadt als Konstrukt und gesellschaftliches Zusammenspiel auf Herz und Nieren untersuchten. Die Definitionen sind bunt, multikulti und genau so, wie man sich eine pulsierende Stadt erträumt: in Bewegung.
Der Soziologe und Städteforscher Walter Siebel benennt in „Was macht eine Stadt urban?“ vier Elemente, die einerseits zu einem „realitätstüchtigen Bild“ einer urbanen Stadt zählen, andererseits Fragestellungen und Problematiken aktueller Stadtpolitik und -entwicklung diskutieren: Geschichtspräsenz, unser Verhältnis zur Natur, ein neues Zeitregime sowie die Nutzung des öffentlichen Raums. Siegel stellt fest: Selbst wenn eine Stadt die vier Punkte Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr des modernen Städtebaus erfüllt, heißt das noch lange nicht, dass sich hier auch eine urbane Stadt entwickelt. Auch die Dichte institutioneller Kulturlandschaften sei kein Garant dafür, dass sich Urbanität entwickle. Vielmehr muss Urbanität aus verschiedenen Blickwinkeln und in aller Diversität verstanden werden. Hier geht’s nicht nur um eine „ordentliche Ökonomie“, die Konzernen und Händler:innen den Traum einer Flaniermeile ermöglicht – in dem Moment, wo Schatten- und Nischenwirtschaft aus dem Stadtleben verdrängt wird, verliert die Stadt einen Teil ihrer urbanen Identität.
Was also urbanes Leben ist, hängt immer auch von der Lebenssituation und den Interessen sozialer Gruppen ab. Sicher ist eines: Eine Stadt ist immer ein Ort, an dem verschiedene Interessen aufeinandertreffen und Konflikte ausgetragen werden. „Die urbane Stadt ist Bühne und Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte und politischer Auseinandersetzungen“, schreibt Siegel.
Urbanität in ihrer reinsten Form gleicht einer Utopie – aber so wie das Wahlrecht für Frauen einst als Utopie galt, sollten wir uns daran erst einmal nicht stören. Klar ist eines: In dem Moment, wo soziale Gruppen medial und politisch gegeneinander ausgespielt werden und Verbote statt echter Lösungen ihren Weg in die Gesetze finden, könnten wir nicht weiter von einem urbanen Leben entfernt sein. In dem Moment, wo Konflikte nicht beidseitig ausgehandelt, sondern unter Ausschluss beteiligter Gruppen erstickt werden sollen, entstehen Brände. In dem Moment, wo Musiker:innen am Wochenende um 23 Uhr ihre Instrumente auf einem öffentlichen Platz zusammenpacken müssen, während auf sogenannten „Traditionsveranstaltungen“ im Stadtkern noch kurz vor 24 Uhr „Sweet Home Alabama“ aus mittelmäßigen Boxen dröhnt, müssen wir uns die Frage stellen: Wessen Interessen wiegen mehr und wer entscheidet über die Gewichtung? In dem Moment, wo ich Samstags um kurz nach 10 Uhr am Abend eine öffentliche Parkanlage verlasse, weil mehr Polizei als Bürger:innen das Grün durchstreift, geh‘ ich nicht mehr tanzen.

Bildquellen

  • Ein Kommentar zum derzeitigen Konflikt zwischen Stadt, Anwohner:innen und (sub)kulturellen Gruppen: Foto: Ali Atakan Açıkbaş via pexels