Henry Kissinger, ein Mann zwischen Schwarz und Weiß

Es gibt wenige Personen in der Welt der Internationalen Beziehungen, die eine derartige Kontroversität hervorrufen wie Henry Kissinger. Scharfe Kritiker seiner Person wie Christopher Hitchens halten ihn für einen der größten Verbrecher der jüngeren Geschichte, dem nach Möglichkeit der Prozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemacht werden sollte. Anstrengungen dieser Art wurden zwar in der Tat unternommen, versandeten allerdings je nach Perspektive erwartend, bzw. widererwartend. Bewunderer und Befürworter Kissingers verweisen hingegen auf seine aus ihrer Sicht herausragenden Leistungen bei der Beendigung des Vietnamkriegs, der Anbahnung der Entspannungspolitik der 1970er Jahre zwischen den USA und der UDSSR sowie seinen Verdiensten im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Am 29. November 2023 ist Kissinger im Alter von 100 Jahren verstorben. Zuvor erschien seine letzte Veröffentlichung.

Staatenlenker und ihre Werkzeuge

In seinem neuesten Werk „Leadership, Six Studies in World Strategy”, welches im Rahmen der deutschen Ausgabe aus dem Amerikanischen mit „Staatskunst“ übersetzt wurde, behandelt er die aus seiner Sicht wichtigen Qualitäten, die ein Staatsmann, respektive eine Staatsfrau, aufweisen sollte. Die Herausarbeitung erfolgt anhand der Biografie und den politischen Errungenschaften von sechs Staatsführern aus Europa, Nordamerika, Afrika und Asien, als da wären Konrad Adenauer, Charles De Gaulle, Richard Nixon, Anwar As-Sadat, Lee Kuan Yew und die einzige Dame in der Männerrunde Magret Thatcher. Doch was verbindet jenen exklusiven Kreis der sechs Auserwählten? Gemäß Kissinger überstanden jene Führungspersönlichkeiten, den, wie er es nennt, Feuerofen des „Zweiten Dreißigjährigen Krieges“ (Kissinger: 16), gemeint ist hierbei die Zeitspanne von 1914 bis 1945 in der in der Tat eine Reihe zerstörerischer Konflikte über die Welt hereinbrachen und wurden jeder für sich durch Selbige geprägt. Bevor er jedoch auf diese genauer eingeht, definiert Kissinger gleich zu Beginn seines Buches die beiden primären Werkzeuge im Werkzeugkasten eines Staatsmanns sowie das Kontinuum ihres Einsatzes, die Baustelle sozusagen. Gemäß seinen Vorstellungen sind hierbei Mut und Charakter untrennbar miteinander verbunden. Mut dient dazu „[…] unter komplexen und schwierigen Optionen eine Richtung zu wählen und damit das Althergebrachte hinter sich zu lassen; […]“ (Kissinger: 12), wohingegen die Charakterstärke dafür verantwortlich zeichnet, „[…] einen Kurs beizubehalten, dessen Nutzen und Risiken im Moment der Entscheidungsfindung nur abgeschätzt werden können.“ (Kissinger: 12). Die Baustelle, um im Bild zu bleiben, beschreibt er als ein Spannungsfeld gesellschaftlicher Limitationen ökonomischer und demographischer Natur, gepaart mit den Herausforderungen, Jene mit Partnern und Gegnern auf nationalem wie internationalem Parkett zu balancieren. Ferner ordnet er Führungspersönlichkeiten in Staatsmänner, es waren damals in der Tat in der überwältigen Mehrheit Männer, und Propheten ein. Während Staatsmänner die bestehende Welt aus einer Perspektive des Möglichen behandeln, steht bei Propheten der Blickwinkel auf das aus ihrer Sicht Nötige im Vordergrund.

Gegenwartsbezüge Teil eins

Die Aktualität dieser Thematik fällt derzeit insbesondere mit Blick auf die bundespolitische Ebene unserer Republik auf. Die derzeitige Bundesregierung lässt nach überwiegender Meinung von Experten und Öffentlichkeit weder „Leadership“ (Führung), noch „Strategy“ (Strategie) und schon gar keine Staatskunst im engen Sinne erkennen. Man könnte fast annehmen, dass die Ampelregierung es bewusst vermeidet, mit jenen Begriffen auch nur entfernt assoziiert zu werden. Ohne dem Kern dieser Rezension all zu weit vorgreifen zu wollen, keiner der oben aufgeführten sechs Persönlichkeiten wies gemäß Kissingers Buches derartige Verhaltensweisen auf. Oder, um es anders auszudrücken, ein Kanzler Olaf Scholz lässt sich derzeit nur schwerlich in eine Reihe mit Carles De Gaulle oder Le Kuan Yew stellen. Doch um auf die sechs Auserwählten zurückzukommen, die gewissermaßen den Kern des Pudels, beziehungsweise dieses Buches bilden.

Die außerwählten Sechs

Mit seinem von persönlichen Anekdoten durchsetzen Schreibstiel gelingt es Kissinger, den Leserinnen und Lesern die Geschehnisse der damaligen Zeit und das Umfeld in dem sich die Staatenlenker bewegten, lebendig und ohne den angestaubten Pathos so mancher Geschichtsvorlesung zu vermitteln. Die historische und analytische Akkuratesse bleibt in diesem Zusammenhang von der ersten bis zur letzten Seite gewahrt. Dem Wandeln auf dieser literarischen „thin line“ ist es zu verdanken, dass wenn er von Adenauers „Strategie der Demut“ spricht, konkret vorstellbar ist , wie es für ihn gewesen sein mag, die Konsequenzen aus zwölfJahren Nationalsozialismus sowie die engen Grenzen, welche die Westallierten für einen im Entstehen begriffenen deutschen Staat vorgesehen hatten, zu akzeptieren und gleichzeitig seine eigene Version für ein prosperierendes, demokratisches Deutschland umzusetzen. Dies betraf unter anderem die Teilsouveränität der Bundesrepublik sowie Fragen rund um die deutsche Wiederbewaffnung und politisch-ökonomische Thematiken. In gleicher Art vermag es Kissinger, Charles De Gaulles „Strategie des Willens“, Richard Nixons „Strategie des Gleichgewichts“ und Anwar as-Sadat „Strategie der Überwindung“ zu porträtieren. Alle drei vereinte, dass sie sich gezwungen sahen, gegen den Mehrheitsstrom zu schwimmen, was die bereits erwähnten Attribute der Charakterstärke und des Mutes verlangte. So führte De Gaulle seinen Wiederstand gegen das nationalsozialistische Deutschland ebenso unbeirrt fort, wie er das Fundament des heutigen Frankreich, die Verfassung der Fünften Republik schuf. Richard Nixon entschloss sich, die Option eines Endes mit Schreckens anstatt eines Schreckens ohne Ende zu wählen, um das unselige Engagement Amerikas in Vietnam zu beenden. Ferner verfolgte er gegen erheblichen politischen Wiederstand eine Politik des Ausgleichs gegenüber der damaligen Sowjetunion und leitete zur Überraschung der Weltöffentlichkeit die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik China ein. Der ägyptische Staatschef Anwar as-Sadat, der nach Kissingers Wahrnehmung heutzutage etwas in Vergessenheit geraten ist, suchte nach den Ereignissen des sechs Tage Krieges 1967 und dem Jom-Kippur Krieg im Oktober 1973 den Friedensschluss mit dem Staat Israel, als erste arabische Nation überhaupt. Diese Bemühungen schlugen sich 1979 im sogenannten Camp David-Abkommen nieder, welches den Friedensschluss zwischen Ägypten und Israel beinhaltete und das erste Abkommen dieser Art darstellte.
Die Herausforderungen bzw. Widerstände, denen sich der Staatsgründer des modernen Singapur Lee Kuan Yew, erwehren musste, waren gänzlich andere. Als Lee im Jahr 1959 sein Amt als Premierminister antrat, übernahm er eine Kolonie in einem beklagenswerten Zustand. Die Wirtschaft am Boden, ohne nennenswerte natürliche Ressourcen und sich abzeichnende ethnische Spannungen, das war die Gemengelage, mit welcher Lee umzugehen hatte. Er trotzte den Selbigen mit Bravour und verwandelte Singapur mittels einer wie Kissinger es ausdrückt „Strategie der Spitzenleistung“ in einen ökonomisch boomenden Staat mit einem Lebensstandard, der den der meisten Länder der Europäischen Union, Deutschland eingeschlossen, übertrifft. Gerade am Beispiel Lees gelingt es Kissinger auf hervorragende Art und Weise, die Alternativlosigkeit von zugleich entschlossenem als auch visionärem ökonomischem, sozialem und außenpolitischem Handeln aufzuzeigen. Lee erkannte, dass ohne jenes der Staat Singapur langfristig nicht überlebensfähig wäre.
Ähnlich trostlosen, insbesondere ökonomischen Realitäten, sah sich Magret Thatcher ausgesetzt, als sie 1979 in Downing Street Nr. 10 einzog. Insbesondere der industrielle Sektor befand sich in einem seit über einem Jahrzehnt andauernden Niedergang. Mit ihrer „Strategie der Überzeugung“ ging sie radikal gegen außenpolitische und innenpolitische Bedrohungen vor, Stichwort Falklandkrieg und Terrorismus. In ökonomischer Hinsicht zeichnete Thatcher maßgeblich dafür verantwortlich, Großbritannien auf eine Dienstleistungswirtschaft umzustellen und generierte so ein beachtliches mittelfristiges Wirtschaftswachstum. Im Lichte der kontemporären sozio- ökonomischen Lage Großbritanniens sind allerdings Fragen nach der Nachhaltigkeit der Reformen Thatchers angebracht.

Gegenwartsbezüge Teil zwei

Den Leserinnen und Lesern wird durch Kissinger allerdings nicht nur die prestigeträchtigen Errungenschaften sowie die aus seiner Sicht dahinterliegende Strategie der Staatenlenker erläutert, vielmehr geht er auch auf Rückschläge und unerfüllte Hoffnungen der Selbigen ein. Des Weiteren gelingt es ihn wie nur wenigen Autoren historische Ereignisse wie De Gaulles Machtübernahme 1958 oder den ägyptisch-israelischen Friedensschluss im Kontext ihrer Zeit präzise einzuordnen. Was über die gesamte Länge des Buches außerdem zum Ausdruck kommt, ist Kissingers Wertschätzung und Sachkenntnis der Geschichte, welche er implizit und explizit an verschiedenen Stellen zum Ausdruck bringt. So beschreibt er an einer Stelle eine Begegnung zwischen dem britischen Premierminister Winston Churchill und einem amerikanischen Austauschstudenten. Auf die Frage des Studenten, wie man sich denn auf das Geschäft der Staatsführung vorbereiten könne, antwortete Churchill, dass er die Geschichte studieren solle, in der Geschichte so Churchill seien alle Geheimnisse der Staatskunst zu finden. Ein eben solches Studium der Geschichte hätte, bzw. würde mit Blick auf unsere Bundespolitik nicht wenigen Ministern und Ministerinnen des derzeitigen Kabinetts gut zu Gesicht stehen. Insbesondere im Bereich der Außenpolitik besteht erhebliches Verbesserungspotential. Es ist schwerlich anzunehmen, dass ein Richard Nixon oder Anwar as-Sadat mit ihren diplomatischen Bemühungen Erfolg gehabt hätten, wenn sie mit einer ostentativen Arroganz, beziehungsweise oberlehrerhaften Attitüde, aufgeschlagen wären. So bezeichnete Annalena Baerbock z.B. den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender Fox News unlängst als Diktator, was nicht von diplomatischem Fingerspitzengefühl zeugt. Die chinesische Reaktion folgte mit der Einbestellung der deutschen Botschafterin in Peking auf dem Fuße. Eben dieses außenpolitische Auftreten im Zuge einer wertegeleiteten Außenpolitik, die bisweilen – freundlich formuliert – selektiv daher kommt, ist der Position Deutschlands auf der internationalen Bühne keinesfalls zuträglich. Insbesondere dann nicht, wenn man den Eigenanspruch hat, mit Verweis auf den Globalen Süden, ein diplomatisches Gegengewicht zu China aufzubauen gedenkt. Eben jener globale Süden ,welcher immer mehr an Bedeutung gewinnt, ökonomisch wie politisch. Im Sinne einer vorausschauenden Außenpolitik wäre die Bundesregierung gut beraten auf der außenpolitischen Bühne von der moralischen Selbstüberhöhung Abschied zu nehmen, oder , um es mit den Worten von Henry Kissinger auszudrücken: „Mediokre Spitzenpolitiker sind unfähig, zwischen den Bedeutsamen und dem Alltäglichen zu unterscheiden; sie lassen sich allzu leicht von der Kompromisslosigkeit überwältigen, die geschichtliche Ereignisse oftmals kennzeichnet. Große Führer hingegen haben ein Gespür für die zeitlosen Erfordernisse der Staatskunst; sie sind in der Lage, unter den vielen Aspekten, die die Realität ausmachen, diejenigen herauszufiltern, die zu einer besseren Zukunft beitragen können.“ (Kissinger: 526)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bildquellen

  • Staatskunst von Henry A Kissinger: Copyright: Bertelsmann Verlag
  • Henry Kissinger, ein Mann zwischen Schwarz und Weiß: Foto: Jürgen Frank