InterviewNachhaltig

Frieden ist ein Menschenrecht: Im Gespräch mit Margot Käßmann, Theologin und Friedensaktivistin

Margot Käßmann, seit Jahrzehnten ein bekanntes Gesicht der deutschen Friedensbewegung, hat schon Ende Januar 2025 zusammen mit über 30 weiteren prominenten UnterzeichnerInnen einen „Offenen Brief an alle Kandidierenden zur Bundestagswahl“ veröffentlicht. Diese werden darin mit profunder Begründung aufgefordert, sich gegen die von der US- und deutschen Bundesregierung ab 2026 geplante Aufstellung von US- Mittelstreckenraketen und Hyperschallwaffen sowie gegen die weitere Entwicklung eigener europäischer Mittelstreckenwaffen im Projekt ELSA zu stellen. Mit ihr sprach Erich Krieger über aktuelle friedenspolitische Perspektiven und Ansätze.

Kultur Joker: Frau Käßmann, die allgemeine Lage hat sich seit Januar vor allem durch die unberechenbare und sprunghafte Politik von Donald Trump und die eskalierenden Kriegsherde drastisch zugespitzt. Die Frage der Stationierung von Mittelstreckenwaffen ist der nach einer umfassenden europäischen Aufrüstung notfalls auch ohne Amerika bis hin zur „Kriegstüchtigkeit“ (Boris Pistorius) gewichen und hat offensichtlich überwiegend positiven Widerhall bis hin zu den Grünen gefunden. Gibt es derzeit überhaupt noch realistische Perspektiven für eine antimilitaristische Friedenspolitik und von welchen gesellschaftspolitischen Kräften könnte diese ausgehen?

Margot Käßmann: Es ist bedrückend, wie sich eine schleichende Militarisierung vollzieht. Diese Abermilliarden, die für Rüstung ausgegeben werden, sind doch keine Investition in die Zukunft. Mich besorgt auch, wie eine Partei wie die AfD das Thema für sich nutzt. Aber wer Unfrieden im eigenen Land sät, kann nicht glaubwürdig für Frieden auf internationalem Parkett auftreten. Ich hoffe darauf, dass es in der Zivilgesellschaft zunehmend Widerstand dagegen gibt und die etablierten politischen Parteien das nicht länger einfach ignorieren können. Gewerkschaften, Umweltverbände, Kirchen, NGOs könnten eine solche Bewegung auf die Straße tragen. So kann klar werden: Frieden entsteht nicht durch Abschreckung und Hochrüstung, sondern durch Diplomatie, Verträge, Abrüstung, vertrauensbildende Maßnahmen. Was mich stört ist, wie sehr Pazifismus derzeit diffamiert wird: Lumpenpazifisten, Teestubenpazifisten, naive Spinner. Das ist für eine Demokratie unwürdig. Wir dürfen verschiedener Meinung sein. Auf jeden Fall wünsche ich mir, dass wir nicht kriegstüchtig werden, sondern endlich friedensfähig. Dass ohne öffentliche Debatte, auch ohne Debatte des Deutschen Bundestages am Rande des Nato-Gipfels 2024 schlicht mitgeteilt wurde, die USA werden ab 2026 wieder landgestützte Raketen in Deutschland stationieren, ist für mich unfassbar. Mit diesen US-Langstreckensystemen solle eine „Fähigkeitslücke“ geschlossen werden. Schon der Begriff ist eine Herausforderung. Eine „Fähigkeitslücke“ scheinen wir eher im Bereich von Abrüstung, Diplomatie und Frieden zu haben. Wo sind denn diese Fähigkeiten abgeblieben? Hier braucht es öffentliche Debatte und öffentlichen Protest.

Kultur Joker: Sie engagieren sich neben vielem auch aktiv in der DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen). Diese älteste deutsche Friedensorganisation hatte großen Anteil bei der Durchsetzung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, deren Wiedereinführung gerade wieder lautstark gefordert wird. Wie beurteilen Sie diesen Rückfall?

Margot Käßmann: Etliche Jahre war ich Präsidentin der KDV, als der Organisation , die Kriegsdienstverweigerer beraten. Für mich ist Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht. Und ich habe mich oft gefragt, warum unser Staat das Gewissen der jungen Männer prüft, die den Kriegsdienst verweigern, nicht aber das derjenigen, die ihn leisten wollen. Beides ist doch eine Gewissensfrage. Selbst 25 Prozent derjenigen, die den Wehrdienst jetzt freiwillig leisten, brechen ihn vorzeitig ab. Da ist doch die Frage, ob sich in der Bundeswehr etwas ändern muss. Und: Die Wehrpflicht wird ja von denen gefordert, die ihn nicht leisten müssen. Sie erhoffen sich davon eine Normalisierung des Militärischen im Alltag. Das halte ich für einen falschen Kurs.

Kultur Joker: In diesem Zusammenhang sind auch die lautstark erhobenen Forderungen nach verstärktem und ungehindertem Zugang von Jugend- und Werbeoffizieren der Bundeswehr zu allen Arten von Bildungseinrichtungen oder die Einführung von „Schnupperpraktika“ (Pistorius) bei der Truppe zu sehen. Muss deswegen die DFG-VK ihre nach der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 heruntergefahrene Beratung von Wehrdienstverweigerern nicht ebenfalls neu beleben?

Margot Käßmann: Das wird auf jeden Fall zu überlegen sein. Die Arbeit wurde ja nie ganz eingestellt, immer wieder gibt es Wehrpflichtige, die während oder nach dem Dienst verweigern wollen und beraten werden. Inzwischen sind da auch junge Männer, die sich schon mal vorab beraten lassen. Auf jeden Fall würden mit einer Wiedereinführung der Wehrpflicht auch die Beratungsstrukturen wieder heraufgefahren werden.
Was Schulen und Hochschulen betrifft: Mit einem neuen Gesetz werden in Bayern seit 2024 Schulen und Hochschulen sogar verpflichtet, mit der Bundeswehr zusammenzuarbeiten. In der Gesetzesbegründung heißt es, „Aufgabe des Staates“ sei es, „unsere Gesellschaft auf die grundlegend veränderte sicherheitspolitische Lage vorzubereiten“, die Auswirkungen auf fast alle Lebensbereiche habe. Die ehemalige Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger hat erklärt, an den Schulen solle für „ein unverkrampftes Verhältnis zur Bundeswehr“ geworben werden. Zudem plädierte sie für Zivilschutzübungen an Schulen zur Vorbereitung auf Krisen wie Pandemien, Naturkatastrophen oder Krieg. Die aktuelle Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist in dieser Logik nur folgerichtig. Es ist Aufgabe der Zivilgesellschaft, diese Logik zu hinterfragen. Denn das Militär ist nicht die „Schule der Nation“. In seiner Antrittsrede als Bundespräsident sagte Gustav Heinemann am 1. Juli 1969: „Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken unterwiesen wurde, sondern heute ist der Frieden der Ernstfall.“
Sinnvoll wäre in diesem Sinne eine Bildungspolitik, die Friedenserziehung, Mediation und gewaltfreie Konfliktbewältigung auf dem Lehrplan hat. Der Journalist Heribert Prantl hat jüngst darauf hingewiesen, dass in vielen Landesverfassungen gefordert wird, die Jugend zur Friedensgesinnung zu erziehen. Da müssen wir als Friedensbewegung wachsam sein!

Kultur Joker: Das renommierte Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI hat in seinem Report 2024 nachgewiesen, dass die Rüstungsausgaben der NATO-Mitgliedsländer inklusive USA dreizehnmal höher sind als die russischen und selbst ohne den Anteil der USA noch dreimal so hoch. Eine aktuelle Studie von Greenpeace zeigt, dass die NATO in nahezu allen militärischen Schlüsselpositionen denen von Russland weit überlegen ist, wiederum auch ohne USA. Trotzdem wird bei der Begründung der drastischen Erhöhung des Militärhaushaltsbudgets behauptet, wir seien „unterrüstet“. Dient diese Verdrehung in Wahrheit nur der eigenen Aufrüstung?

Margot Käßmann: Es dient auf jeden Fall der Legitimation, hunderte von Milliarden Euro in Rüstung zu investieren. Ständig wird erklärt, wir würden unmittelbar von Russland bedroht, Russland wolle sich erst die Ukraine, dann das Baltikum, schließlich Polen und am Ende Deutschland einverleiben. Das entspricht doch gar nicht der Realität. Da geht es natürlich auch um Interessen. Zum einen sehen wir, wie Donald Trump „Deals“ machen will mit Blick auf Öl, Gas und seltene Erden in der Ukraine. Zum anderen verdient vor allem die Rüstungsindustrie an der Aufrüstung, deren Aktien Rekordhöhen erreichen. Allein die Aktie von Rheinmetall hat seit Februar 2022 von 96€ zwischenzeitlich ein Rekordhoch von 906€ erreicht! Die Prognosen sind bestens, zeigen Analysten und stufen die Aktie als „attraktiv“ ein. Aktionäre verdienen an den Kriegen der Welt und wenn die Flüchtlinge aus diesen Kriegen zu uns kommen, werden sie abgewiesen. Der Bundeskanzler selbst war eigens zum Spatenstich für eine neue Rüstungsfabrik in Unterlüß zugegen. Jetzt heißt es sogar, die Rüstungsindustrie müsse staatlich gefördert werden.

Kultur Joker: Sie sind evangelische Christin, waren Pastorin und Landesbischöfin in Hannover und zeitweilig Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) und haben Ihren speziellen Einsatz für den Frieden oft mit dem Gebot der „Feindesliebe“ von Jesus aus der Bergpredigt begründet, das ja für alle Christen gilt. Warum finden sich dann die christlichen Kirchen nicht an vorderster Front im pazifistischen Widerstand gegen jegliche Form der Kriegstreiberei und militärischer Aufrüstung?

Margot Käßmann: In unseren Kirchen hat es immer eine Mehrheit gegeben, die Krieg unter bestimmten Umständen als notwendiges Übel akzeptiert und eine Minderheit von Pazifistinnen und Pazifisten aus Glaubensüberzeugung. Ich kann bei Jesus keine Legitimation von Gewalt finden. Als ein Jünger ihn mit dem Schwert vor der Verhaftung bewahren wollte, hat er gesagt: „Steck das Schwert an seinen Ort“. „Selig sind, die Frieden stiften“ ist seine Wegweisung und ja sogar die Feindesliebe. Das ist, so der Friedensnobelpreisträger Martin Luther King, das Schwerste, was Jesus uns hinterlassen hat. Ja es ist geradezu eine Provokation, die die Spirale von Hass, Rache und Gewalt durchbrechen soll. Meines Erachtens sind die Kirchen immer in die Irre gegangen, wenn sie Rüstung und Krieg legitimiert haben. Aber Pazifismus ist eine Haltung, die jeder Mensch nur für sich selbst finden muss und die niemand verordnet werden kann.

Kultur Joker: Viele Menschen, insbesondere aus jüngeren Jahrgängen, verzweifeln gegenwärtig ob der unzähligen globalen kriegerischen Auseinandersetzungen oder der drohenden Klimakatastrophe und flüchten sich in wie auch immer geartete Milieus oder in die Vereinzelung. Was können Sie solchen Menschen raten?

Margot Käßmann: Gemeinschaft macht stark, Engagement macht Sinn! Ich habe in den letzten drei Jahren überraschend viele Menschen ganz neu kennengelernt, mit denen ich vorher gar keine Verbindung hatte. Das Friedensthema knüpft ein Band, wir ermutigen uns gegenseitig, obwohl wir zum Teil aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen kommen. Da kann ich den Jungen nur sagen: Macht euch auf, zieht euch nicht zurück, sondern gestaltet mit, das tut richtig gut.

Kultur Joker: Frau Käßmann, wir bedanken uns für das Gespräch!

Bildquellen

  • Margot Käßmann: © Julia Baumgart