Andrea Lagos Neumann erinnerte in einer Performance im Kammertheater des E-Werks an Opfer von politischer Gewalt
Vor dem Einlass gibt es Melissentee. Soll Anspannungen lösen. Vielleicht hat der Tee auch eine vorbeugende und begütigende Wirkung. Denn Andrea Lagos Neumanns Stück „Vom Schrei zur Bewegung“, das Mitte März im Kammertheater des E-Werks Premiere hatte, führt in eine Welt, die weit hinter jeder Triggerwarnung liegt. Gemeinsam mit Florencia Lagos Neumann und Felipe González Berríos hat sie ein Stück entwickelt, das an die Folteropfer der lateinamerikanischen Diktaturen erinnert. Da Andrea Lagos Neumann gebürtige Chilenin ist, nehmen der Militärputsch und die Pinochet-Jahre eine besondere Rolle ein. Mag der titelgebende Schrei der dreiköpfigen Compagnie (Felipe González Berríos, Rebecca Mary Narum und Lola Villegas Fragoso) stumm sein, die Erzählerstimme, die immer wieder für ein paar Textpassagen zu hören ist, ist es nicht. Sie liefert Fakten und nennt Zahlen: von 1972 bis 1989 sollen 112.000 Menschen Opfern von Gewalt geworden sein. Offiziell spricht man von 3.000 ermordeten Menschen in Chile, von weiteren 1.000 fehlt bis heute jede Spur. Folter bedeutete auch sexuelle Gewalt, besonders berüchtigt war die so genannte „La Discoteca“, ein Gefängnis, das in einem Wohnviertel lag, man spielte so laut Discomusik, dass die Schreie nicht zu den Nachbarn drangen. Auch Kinder wurden hier gefoltert.
Im Kammertheater hängen mehrere Stoffbahnen von der Decke, auf die Großaufnahmen des blauen Samtkleides projiziert sind, später sind es fleckige Oberflächen, die ominös wirken – hier bleibt das Stück doch sehr vage. Dann folgen Details der Kostüme. Auf die Oberteile sind folkloristisch wirkende Szenen gestickt, es könnte naiv wirken, doch auf einer der Rückseiten sieht man eine Art Kastenwagen, er ist vergittert. Felipe González Berríos trägt in seinem Anfangssolo das Samtkleid, er liegt am Boden, man könnte ihn für tot halten, doch dann bewegt er ruckartig die Arme, er steht auf, dreht sich. Irgendwann liegt er wieder am Boden, Rebecca Mary Narum tritt hinzu und zeichnet mit weißer Kreide die Umrisse seines Körpers nach. Einige Male wird dies in wechselnder Konstellation noch geschehen, manchmal singt jemand dazu. Es ist ein einfaches, aber wirkungsvolles Bild, die Toten zu vergegenwärtigen. Überhaupt könnten die Beteiligten sich leicht an diesem Kammerspiel verheben, doch die ästhetischen Mittel lassen es weder banal wirken noch entsteht der Eindruck, die eigene Kunst werte sich durch das Elend anderer auf. Stattdessen finden sich Gesten der Fürsorge, wenn Rebecca Mary Narum einen am Boden liegenden Körper berührt, einmal hüpfen die drei, während sie ihre Köpfe nach vorne hängen lassen, die Körper kommen hart am Boden auf. Gegen Ende der gut einstündigen Vorstellung finden sie sich zu einer Formation zusammen, die Bewegungen werden weicher, die Sprünge und Drehungen ausgreifender als fänden sie ihre Würde und Weiblichkeit wieder. Die Opfer von Gewalt zu vergessen, daran ist nicht einmal zu denken.
Bildquellen
- Die dreiköpfige Compagnie: © Jennifer Rohrbacher