Feiern mit den Jungs / Wo bleiben weibliche DJ’s im Line-Up des Sea You Festivals?

Ehrlich, bei aller Notwendigkeit, gegen Nazis, Machos oder Faktenverdreher*innen auf die Straße zu gehen, wünsche ich mir manchmal schlicht Ruhe und Entspannung. Gut, dass bald Festivalsaison ist. Events wie das Sea You Festival 2022 am Tunisee locken mit entspannter Atmosphäre und fetten Headlinern: Aka Aka, Alex Kennon, Bart Skills, Citizen Kain, Clara Cuvé, Eats Everything, Enrico Sangiuliano. Statt ideologischer Grabenkämpfe endlich Party mit den Jungs. Wobei – Party mit den Jungs? Mir rutscht die Sonnenbrille von der Nase. Wo sind die Frauen hier? Okay, Entwarnung, eine habe ich gefunden – Clara Cuvé. Aber sonst?
Irgendein Typ im schicken Hawaii-Hemd, eben noch am Abdancen, würde mich jetzt sicher beruhigen: Ist ja nur ein Auszug, gibt noch mehr weibliche DJs auf dem Festival. Ich soll nur das weitere Line-Up angucken, das auf der Homepage steht. Okay. Unter den gelisteten gut 50 Artists finde ich immerhin 7 Namen, hinter denen ich eine weiblich zu lesende Person vermute. Der Typ im Hemd will mir die Sonnenbrille wieder auf die Nase schieben. Gibt eben weniger Female DJs. DJing macht Frauen vielleicht einfach weniger Spaß. Ich soll mal entspannen. Gibt sicher irgendwo ein feministisches Festival, da kann ich mal gucken. In Berlin, Leizig oder so.
Irgendwie habe ich keine Lust mehr zu entspannen. Ich lasse die Sonnenbrille unten und bleibe hier. Denn hier steckt die Problematik. Sie nennt sich Repräsentation. Und sie fängt dort an, wo Festivals als öffentlichkeitswirksame Formate weiblich gelesenen Menschen wenig Raum bieten, ihr Publikum zu erreichen. Tatsächlich sind weibliche DJs bei weitem nicht so oft anzutreffen wie ihre männlichen Pendants. Wie der Hamburger Verein musicHHwomen* auf seiner Website zeigt, sind in der Berufsgruppe der DJs für 2014 680 Männer und 45 Frauen gelistet. Ob diese krasse Diskrepanz mit Geschlechterklischees zu erklären ist? Wer jedenfalls ernsthaft glaubt, dass hinter der Zahl 45 irgendein Fortschritt steckt, sollte nur einen Blick in die 90er der wilden Love-Parades werfen. Für 1995 listet musicHHwomen* 539 Männer und 27 Frauen. Irgendwie zweifle ich angesichts mancher Line-Ups daran, dass 2022 endlich die Trendwende stattgefunden haben muss, jedenfalls nicht hier im Ländle.
Das Baden Württemberger Pendant musicBWwomen* sagt es deutlich: Gleichstellung in der Musikwirtschaft ist längst nicht erreicht. Weitere Bereiche wie Musikjounalismus, Jazz oder Kultur – wie Rundfunkorchester geben Beispiele. Und dennoch wird immer wieder argumentiert, dass Quoten nichts brächten, dass allein Talent und Individualität für Erfolg und Durchbruch garantieren. Es wird von großen Artists wie Beyoncé oder Billie Eilish gesprochen. Tatsächlich aber ist die Musikwirtschaft weiterhin eine kalkulierende Wirtschaft und kein inklusives Ideenlabor für individuellen Ausdruck. Noch immer sitzen dort vor allem Männer, die Dinge eben so machen, wie sie immer schon gemacht wurden. Und wenn ein als „jung“ gelabeltes Techno-Festival wie das Sea You solche Traditionen fortführt, sollten gerade wir Jungs aus unserem Boy‘s Club heraustreten und ins Debattieren kommen, auch und gerade in der Sommersonne.

Bildquellen

  • Kolumne: Foto: Kultur Joker
  • Noch immer sind weibliche DJs auf Festivals und Co dramatisch unterrepräsentiert: Foto: Odin Reyna von Pexels