Fantasievolle Traumwelten: Kirill Petrenko dirigiert, Lydia Steier inszeniert eine festspielreife „Frau ohne Schatten“ in Baden-Baden

Das gemeinsame Abendgebet ist gesprochen. Unter den strengen Augen der Nonnen legen sich die jungen Frauen im Schlafsaal in ihre Betten. Die wuchtigen Trommelschläge und scharfen Punktierungen im tiefen Blech, mit denen Richard Strauss’ 1919 uraufgeführte Oper „Die Frau ohne Schatten“ beginnt, lassen eines der Mädchen aufschrecken wie aus einem Alptraum. Die Figur des Drachentöters in der Saalecke beginnt zu laufen, eine Nonne verliert ihre Haube, die Wände öffnen sich wie von Geisterhand.

Regisseurin Lydia Steier und Dirigent Kirill Petrenko nehmen mit den groß aufspielenden Berliner Philharmonikern, exquisiten Solisten und dem Chor des Nationalen Musikforums Wroclaw sowie dem Cantus Juvenum Karlsruhe das Publikum mit auf eine sinnliche Reise, die man so schnell nicht vergessen wird. In dieser szenisch wie musikalisch opulenten, hellsichtigen, Grenzen sprengenden Produktion des selten gespielten Werks findet die Zusammenarbeit der Berliner Philharmoniker mit dem Festspielhaus Baden-Baden bei den Osterfestspielen ihren bisherigen Höhepunkt. Welchen Verlust es für die Stadt bedeuten wird, wenn das Orchester unter Petrenko ab 2026 Oper nur noch in Salzburg spielt, zeigt der berauschende Abend in jedem Moment.

Die Berliner Philharmoniker lassen die gläserne, schwebende Geisterwelt in diesem musikalischen Märchen genauso plastisch entstehen wie die geschäftige, leidenschaftliche Welt der Menschen. Da rumst es richtig im Graben wie am Ende des zweiten Aufzugs, wenn das Orchester seine Muskeln spielen lässt und Petrenko für die Schlusstakte den wendigen Klangkörper voll aufdreht. Blitzschnell nehmen sich die Musikerinnen und Musiker nach kurzen Ausbrüchen wieder zurück, um die Gesangsstimmen nicht zu gefährden. Die vielen virtuosen Bläsergirlanden werden ganz beiläufig ins komplexe Geschehen gestreut. Die exquisiten Soli und der farbintensive Streicherklang sind echter Luxus.

Mit der großartigen, über die gesamten vier Stunden der Aufführung auf der Bühne präsenten Vivien Hartert als traumatisiertes Mädchen hat Lydia Steier eine vielschichtige Figur geschaffen, die das Geschehen im Traum aus der Ferne beobachtet, aber auch miterlebt. Nur wenn die Kaiserin (betörend nicht nur in der stratosphärischen Höhe: Elza van den Heever), Tochter des Geisterkönigs Keikobad, einen Schatten erhält, also ein Kind gebären kann, wird der Kaiser (mit enormer Strahlkraft: Clay Hilley) erlöst. Traumlogik prägt auch die fantasievolle, musikalische Inszenierung. Da schwebt ein Revuegirl vom Himmel, da gleitet eine barocke Heiligengruppe vorbei (Kostüme: Katharina Schlipf). Auch das Bühnenbild von Paul Zoller entwickelt ein Eigenleben. Die Wände fahren von selbst. Und machen den nüchternen Schlafsaal zu einer pinkfarbenen Puppenmanufaktur, in der die Färberin (stark: Miina-Liisa Värelä) sich dem Gebärdruck ihres Mannes Barak (mit rundem, kantablen Bariton: Wolfgang Koch) immer selbstbewusster widersetzt. Auch die Kaiserin emanzipiert sich nach und nach vom negativen Einfluss der als Nonne dargestellten Amme (beängstigend präsent: Michaela Schuster), die sich am Ende selbst geißelt. Trotz ihrer assoziativen Bildsprache ist Steier nah am Text – lässt den Kaiser zu Stein werden und Kähne fahren, die zu Särgen werden.

Zum von den Berliner Philharmonikern in hellste Farben getauchten Schluss, wo sich das Kaiser- und das Färberpaar glücklich umarmen, wühlt das Mädchen in Panik die Erde von frisch aufgeschütteten Gräbern auf. Vom Theaterhimmel fallen schwarze Blätter. Sucht sie ihr eigenes Kind? Ihr Alptraum hat kein Happy End.

Weitere Vorstellungen: 5. und 9. April 2023. www.festspielhaus.de

Bildquellen

  • Kirill Petrenko dirigiert, Lydia Steier inszeniert eine festspielreife „Frau ohne Schatten“ in Baden-Baden: Foto: Martin Sigmund