Eine Reise durch Anselm Kiefers Kosmos: Große Sonderausstellung in der Kunsthalle Mannheim

Wuchtige erdfarbene Wellen türmen sich auf, darunter scheint ein dunkelgrauer Fluss sich seinen Weg zwischen schmutzig weißem Geröll zu bahnen. „Sefiroth“ heißt das gigantische Kunstwerk, das eine ganze Wand über zwei Stockwerke hinweg einnimmt und wie eine Naturgewalt über die Besucher der Mannheimer Kunsthalle hereinbricht. Der passende Auftakt zur großen Sonderausstellung des Künstlers Anselm Kiefer, die wie so viele Ausstellungen durch den Lockdown unterbrochen wurde, kaum dass sie eröffnet hatte. Deshalb hat die Mannheimer Kunsthalle die nach dem Künstler benannte Schau „Anselm Kiefer“ bis zum 22. August verlängert.
Man fragt sich ohnehin, wie man sich in den hohen, weiten Räumen der Kunsthalle bei einem ausgearbeiteten Hygienekonzept anstecken sollte. In diesen Räumen entfalten sich Kiefers monumentale Arbeiten optimal. Riesige getrocknete, metallfarbene Sonnenblumen schauen auf das derzeit noch nicht vorhandene Publikum herab. Es heißt, der Künstler habe diese speziellen, 2 Meter und mehr erreichenden Sonnenblumen aus seinem eigenen Garten in seiner Wahlheimat Frankreich. Sie gehören, zusammen mit Asche, Metall und Erde, zu seinen Lieblingsmaterialien, ob in den frühen Arbeiten oder den neueren, oft von der jüdischen Kabbala inspirierten Werken.
Die Mannheimer Schau nimmt einen mit auf eine Reise durch Kiefers Kosmos, unterteilt in die Themen „Gott und Staat“, „Mann und Frau“, „Tod und Stille“ sowie „Himmel und Erde“. Wer erinnert sich noch an den Widerstand gegen dieVolkszählung 1987? „Leviathan“ nennt der Künstler sein Kunstwerk, in dem das Unbehagen der durch Erbsen dargestellten Bürger gegenüber der Datensammlung durch den Staat zum Ausdruck kommt. Mitten im Raum steht ein rostiger Container mit offenen Türen, durch die man zahlreiche, wie Vorhänge aufgehängte Datenblätter aus dünnem Blei sieht. In ihnen sind Erbsen gefangen. Darüber ringeln sich metallene Schlangen.Im staatstheoretischen Denken nach Thomas Hobbes stehen sie für den Staat als bedrohlichen „Leviathan“ (1651).
Doch es gibt auch Hoffnung. Ein Flugzeug hat Sonnenblumen geladen als wolle es deren Samenkörner über der aschegrauen verwüsteten Landschaft des Gemäldes ausstreuen. „Die große Fracht“ ist benannt nach dem gleichnamigen Gedicht von Ingeborg Bachmann. Anselm Kiefer findet in seinem Werk oft Platz für Frauen. „Lilith“ zum Beispiel, in der jüdischen Überlieferung die erste Frau von Adam. Sie rebellierte gegen ihren Mann und gegen Gott selbst. In Kiefers geradezu plastisch gemalter Skyline einer Großstadt steht eine Strähne schwarzen Haares für die widerspenstige, oft als Vernichterin geschilderte Lilith.
„Frauen der Antike“ findet man im nächsten Raum. Allerdings sehen sie etwas anders aus als es der Titel dieser Werk­reihe vermuten lässt. In den langen weißen Kleidern aus Gips stecken keine weiblichen Figuren, es gibt nicht einmal Köpfe. Aus dem einen Kleid wachsen Sonnenblumen, das andere Kleid wird schier erdrückt von der Masse großer, im wahrsten Wortsinne bleischwerer Bücher. Beides steht dafür, dass viele Frauen in früheren Zeiten trotz ihrer Verdienste kaum gewürdigt wurden und somit unfreiwillig anonym blieben.
Seit vielen Jahren beschäftigt sich Anselm Kiefer intensiv mit Religion und Mystik. Ein ganzer Raum ist dem „Palmsonntag“ gewidmet. Die ausgewachsene Palme, die samt Wurzelballen wie umgestürzt da liegt, steht natürlich für die Kreuzigung. Den Hintergrund nehmen 30 schwere Vitrinen ein, in denen getrocknete dornige Rosenzweige und trockene Palmwedel auf einem Bett aus Erde und Asche eine fast schon greifbare Passionsgeschichte erzählen.
Der vierte und letzte Raum liegt im zweiten Stock, was die Gelegenheit gibt, aus einer anderen Perspektive Ausmaß und Umfang von „Sefiroth“ wahrzunehmen. Neuneinhalb Meter hoch und fast 3 Tonnen schwer – dieses archaische Sinnbild der Schöpfung nach der Kabbala sorgt dafür, dass man sich als Mensch nicht allzu groß und mächtig fühlt.
An die frühen Hochkulturen im Zweistromland erinnert „Der fruchtbare Halbmond“. Man meint fast, das Fallen der Ziegel hören zu können, aus denen Stadtstaaten wie Babylon und Ninive errichtet wurden. Auf den aus erdigen Farben plastisch herausgearbeiteten Ziegeln schrieb Kiefer die Namen legendärer Orte jener lang vergangenen Zeit: Ur, Akkad, Jericho…
Eine verspielte Note bringt das jüngste Werk in die Ausstellung: „Der verlorene Buchstabe“ entstand 2011-2017. Im Kern steckt eine als Original ausgewiesene alte Heidelberger Druckmaschine, die von konservierten Sonnenblumen überwuchert wird. Umringt wird sie von Folianten aus Metallseiten und Sonnenblumenkernen. Das erinnert an einen klugen Menschen der römischen Antike, der zu der zeitlos richtigen Erkenntnis kam, dass es einem an nichts fehlt, wenn man eine Bibliothek und einen Garten hat.

„Anselm Kiefer“, Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 6, 68165 Mannheim, www.kuma.art. Bis 22.08.2021

Bildquellen

  • Installationsansicht „Anselm Kiefer“. Der verlorene Buchstabe, 2011-2017, Kiefer-Sammlung Grothe im Franz Marc Museum © Anselm Kiefer Der fruchtbare Halbmond, 2010, Sammlung Grothe in der Kunsthalle Mannheim © Anselm Kiefer: Foto: Kunsthalle Mannheim; Rainer Diehl
  • Anselm Kiefer: © Atelier Anselm Kiefer