Ein Leben für die Kunst: Gabriele Münter: „Pionierin der Moderne“, große Werkausstellung in Bern

Gabriele Münter: „Stillleben vor dem gelben Haus“, 1953, Öl auf Leinwand 46,5 x 54,5 cm, Gabriele Münter- und Johannes Eich-ner-Stiftung, München © 2021, ProLitteris, Zürich

Die erste Einzelausstellung von Gabriele Münter (Berlin 1877 – 1962 Murnau) in der Schweiz ist eine Kooperation mit der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung und der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München. Sie wird im Zentrum Paul Klee (ZPK) in Bern gezeigt – dieser Ort weist sofort auf die Verbindung Münters mit dem Blauen Reiter hin. Die Schau geht aber über die Zugehörigkeit von Münter zu dieser internationalen Künstlergruppe hinaus – zeitlich und medial: Dem Werk Münters nach 1914 wird breiter Raum gegeben und zahlreiche Fotografien von Münter ergänzen die Gemälde, Drucke und Zeichnungen in aufschlussreicher und thematisch passender Weise. Mit dem Hervortreten des fotografischen Interesses von Münter wird auch deutlich, warum die Gruppenbild-Fotos aus der Zeit des Blauen Reiter Dokumente meist ohne Münter sind – sie stand hinter der Kamera. Vor allem zeigt sich hier die frühe Schulung des künstlerisch-abstrahierenden Blicks bei Münter – Standort und Motivausschnitt vieler USA-Fotografien weisen auf das Sehen einer Bildgestaltung. Den Einsatz der Fotografie z. B. durch Degas bezeugen dessen angeschnittene Motive in Gemälden – was auch bei Münter vorkommt. Fotografie ist ein ästhetisches Mittel für die Entkoppelung von Malen/Zeichnen und Abbilden, also für Abstraktionsprozesse. Das entspricht auch Münters zeichnerischer Begabung, die dem Umriss und der einfachen Linienziehung den Vorzug gab.
Im Berner Hallenbau sind auf den Wandabschnitten der großzügigen Kojen motivische Werkgruppen in historischen Abfolgen präsentiert – biographische Entwicklungen sind auf blauen Flächen zu finden. So wird deutlich, dass Münters Gesamtwerk aus verschiedenen Phasen einer Kreativität eigener Prägung besteht. Die Ausstellung zielt darauf, dass die Qualität ihres Œuvres insgesamt deutlich und für das ganze Lebenswerk anerkannt wird.
Werk-Stationen zeigen Münters Fotografien von ihrer USA-Reise 1898-1900, Bilder und fotografische Vorlagen vom Tunesien-Aufenthalt mit Kandinsky, dann die bedeutenden Ergebnisse der Paris-Reise 1906/07 mit Holzschnitten und ersten Linolschnitten, einem damals neuen Material. Münter zeigt sich immer wieder experimentierfreudig – wie sie auch die Hinterglasmalerei in die zeitgenössische Kunst einbringt. Ein weiterer Abschnitt gilt ihren Porträts wie dem berühmten, von klassisch-akademischer Kunstauffassung losgelösten Bild der Malerin Marianne von Werefkin. In thematischen Abfolgen werden konzentriert Werke der ersten Murnauer Zeit, die Stillleben mit Volkskunst, die Bild-im-Bild-Motive zusammengestellt.

Gabriele Münter: „Zuhörerinnen“, ca. 1925 1930, Öl auf Leinwand, 69,2 x 54 cm, Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München © 2021, ProLitteris, Zürich

Nach 1914 folgen Schwerpunktsetzungen mit den Jahren in Skandinavien, mit neuen Themen und Motiven und mit den 20er Jahren in Berlin, in denen die Zeichnung mangels eigenem Atelier dominant und prominent wird. Es sind ungewöhnlich modern anmutende Darstellungen zumeist von Frauen, gezeigt in Haltungen und Tätigkeiten, die den Aufbruch in neue Lebenswelten vermitteln. Die Reduktion auf die sicher gesetzte freie Linie zeigt die figürlichen Motive oft in einem staunenswerten Abstraktionsgrad. Münters radikaler Zeichenstil bleibt dabei auf das Essenzielle der Persönlichkeit gerichtet (vgl. „Zuhörerinnen“, ca.1925-1930, mit dem zeitgeistigen „Bubikopf“ – auch Münter selbst entschied sich für das „Zöpfe abschneiden“).
Die Ausstellung vermittelt die Situation der Kriegsjahre – nun mit dem neuen Lebensgefährten Johannes Eichner im winterfest gemachten „Russenhaus“ in Murnau – und die Gefährlichkeit eines Kellerverstecks voller Bilder in dieser Nazi-Hochburg. Der Zugang zu Malmaterial war nur über den Beitritt Münters zur Reichskulturkammer gewährleistet. 1935/36 entstanden neue, eher dem Stil der Neuen Sachlichkeit zugeneigte Gemälde mit Motiven wie „Der Blaue Bagger“. Doch in den Nachkriegsjahren konnte Münter ihre Werke erfolgreich in Wanderausstellungen durch Deutschland zeigen. Durch Rückgriffe auf ihr eigenes Werk entwickelte sie in den 1950er Jahren erneut eine kraftvolle Malerei – aus ihren summarisch abstrahierenden Bildelementen von Farbflächen und Linien. Diesen Rückgriffen gingen immer schon „Selbstwiederholungen“ (Isabelle Jansen) voraus, die – ähnlich dem seriellen Arbeiten – ein Reflex forschenden Interesses sind. So werden eigene Motive zum Teil über Jahre hindurch neu bearbeitet, um ihnen neue künstlerische Aspekte und Lösungen abzugewinnen (vgl. Stillleben vor dem gelben Haus, 1953). Münter sah eine Hauptaufgabe der Kunst darin, „Form, Komposition, Zeichnung, Farbe in Übereinstimmung mit dem Naturgegenstand“ zu bringen. Erst nach dem Tod Kandinskys (1944) erprobte sie in einer langen Werkphase 1952 – 1954 die rein abstrakte Formensprache in kleinen Formaten Öl auf Papier. Es entstand die große Werkgruppe „Abstrakte Improvisationen“, die 1955 in einer Münchner Galerie ausgestellt wurden.
Diese bis ins hohe Alter reichenden Entwicklungen mit der nachgewiesenen Freude an eigenen Herausforderungen und neuen Aufgabenstellungen machen Gabriele Münter zu einem herausragenden Vorbild für Künstler und Künstlerinnen auch heutiger Zeit. Neben der Gattung des Porträts waren die Stillleben eine Besonderheit, die auch kunstgeschichtlich gewürdigt wurde.
Die Berner Münter-Präsentation zeigt die vielen Aspekte ihres künstlerischen Schaffens und bietet einer breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit zu einer grundlegenden Anerkennung und Wertschätzung des Gesamtwerks.

Gabriele Münter, Pionierin der Moderne. Zentrum Paul Klee, Bern, Di-So 10-17 Uhr. www.zpk.org. Bis 8. Mai 2022

Bildquellen

  • Gabriele Münter: „Stillleben vor dem gelben Haus“, 1953, Öl auf Leinwand 46,5 x 54,5 cm, Gabriele Münter- und Johannes Eich-ner-Stiftung, München: © 2021, ProLitteris, Zürich
  • Gabriele Münter: „Zuhörerinnen“, ca. 1925 1930, Öl auf Leinwand, 69,2 x 54 cm, Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München: © 2021, ProLitteris, Zürich