Die Macht der Lebensmittelindustrie

„Wenn ich vor 25 Jahren gesagt hätte: in meiner Klinik ist ein 18-Jähriger mit Diabetis Typ 2, hätten Sie geantwortet: Unglaublich! Das gibt’s nicht! Heute sind Kinder und Jugendliche mit Diabetis Typ 2 nicht mehr außergewöhnlich“ berichtet Dean Schillinger vom General Hospital San Francisco. Diabetis und Herzkrankheiten sind Folgen von Adipositas, einer Krankheit die bis 2030 die Hälfte der Weltbevölkerung betreffen könnte. Schon heute leidet jede*r vierte Erwachsene in Deutschland daran.
In der Reportage „Dick, dicker, fettes Geld“ (2020) werfen Thierry de Lestrade und Sylvie Gilman einen Blick hinter die Kulissen der Lebensmittelindustrie und auf den Ursprung der global auftretenden Krankheit. Adipositas wird in unserer Gesellschaft als ein Problem der*des Einzelnen verhandelt, da die Person zu viel esse und sich nicht genug bewege. Vor allem der Aspekt der körperlichen Fitness wird gerne und häufig in den Mittelpunkt gestellt. Bewegung umgibt uns überall: in TV-Shows wie „The Biggest Loser“, in der Werbung, auf Social Media etc. Die Dokumentation macht jedoch darauf aufmerksam, dass Bewegung und Sport eine untergeordnete Rolle spielen, denn die Ernährungsumstellung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint in Zusammenhang mit der steigenden Übergewichtigkeit zu hängen. Damals hieß es „weg vom Fett und hin zum Zucker“.
„Dick, dicker, fettes Geld“ beleuchtet die Verbindung zwischen Adipositas und einer Ernährung, die durch Lebensmittelpreise beeinflusst wird – in Südamerika ist Wasser teurer als Limonade. Auch andere Lebensmittel wurden langsam aber stetig von zuckerhaltigeren Produkten ersetzt: Mais Tortillas mit Toastbrot, Bohnen durch Thunfischkonserven, der Konsum von Obst und Gemüse nahm über zwanzig Prozent ab, der von Bohnen innerhalb von zwanzig Jahren sogar um 50 Prozent, gleichzeitig stieg der Konsum von Süßgetränken um 40 Prozent.
Einem einzigen Land ist es bisher gelungen der Lebensmittelindustrie die Stirn zu bieten: in Chile gibt es seit 2016 vier Siegel die auf Produktverpackungen vor Fett, Kalorien, Salz und Zucker warnen. Übersteigt ein Produkt die kritischen Werte, wird es mit den entsprechenden Siegeln versehen und darf in Chile nicht mehr beworben werden. Das bedeutet keine Werbung im Fernsehen, im Internet oder über Gratisspielzeuge und Sticker. Außerdem wurde eine Besteuerung von gesüßten Getränken durchgesetzt. Innerhalb von achtzehn Monaten sank der Softdrinkkonsum in Chile um 25 Prozent und auch der Konsum von verarbeitetem Junkfood nahm rapide ab. Auch in Schulen wird über die Siegel aufgeklärt. Das verändert die soziale Norm. Marcely Reyes vom Institut für Ernährung an der Universität von Chile berichtet: „Viele Produkte von denen es hieß man könne ihre Formel aus technischen Gründen nicht ändern, enthalten heute weniger Salz und Zucker. Es ging also doch. Die Industrie sagt zwanzig Prozent der Produkte wurden neu konzipiert, in manchen Bereichen mehr. Das ist ein Erfolg!“
Die Siegel wurden inzwischen auch in Peru und Mexiko eingeführt. Bald soll Uruguay folgen. Das Pendant in Europa lässt jedoch zu Wünschen übrig. Der Nutri-Score verweist nur auf Nährwerte, ist freiwillig und greift nicht direkt in den Vertrieb von Produkten ein. Nur wenige Länder haben den Nutri-Score übernommen und dort ist er auch nur auf wenigen Produkten zu finden. Dabei wird eine Regulierung schon lange gefordert. Erst im Januar 2019 richteten sich 2000 Ärzt*innen in einem offenen Brief an die Bundesregierung, in dem sie eine Besteuerung von Softdrinks und eine Werbebeschränkung fordern. Eine Einführung wurde schon 2011 in Brüssel diskutiert, jedoch durch die Lobbyarbeit der Lebensmittelindustrie zerschlagen und auch 2019 scheiterte in Frankreich ein neuer Versuch an den Interventionen der Konzerne. „Dick, dicker, fettes Geld“ bringt Licht ins Dunkel und stößt die Debatte um Ernährungspolitik in die Öffentlichkeit.

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Bildquellen

  • „Dick, dicker, fettes Geld“ (2020): Foto: Arte