Die China-Strategie der Bundesregierung: Wohlklingende Worte – Ja. Inhaltliche Substanz – Nein.

Am 21. Juli 2023 war es endlich soweit und die Bundesregierung veröffentlichte ihre rund 61 Seiten lange China-Strategie. Das ein derartiges Strategiepapier erst im Jahr 2023 verabschiedet wurde, wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Fähigkeit Deutschlands, langfristig eine Strategie basierte Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben. Denn offen gesprochen fand, beziehungsweise findet der ökonomisch-politische Aufstieg der Volksrepublik China keinesfalls im luftleeren, der deutschen Politik nicht zugänglichen Raum statt. Gemäß den Erläuterungen der Einleitung, dient die China-Strategie zur Erreichung der folgenden Ziele:

  • Sie soll die Bundesregierung in die Lage versetzen, in der komplexen Beziehung zu China unsere Werte und Interessen besser zu verwirklichen.
  • Sie soll Wege und Instrumente aufzeigen, wie die Bundesregierung mit China zusammenarbeiten kann, ohne Deutschlands freiheitlich-demokratische Lebensweise, unsere Souveränität, unseren Wohlstand sowie unsere Sicherheit und Partnerschaften mit anderen zu gefährden.
  • Sie soll den Rahmen setzen, innerhalb dessen die Ressorts der Bundesregierung ihre Politik gegenüber China kohärent gestalten.
  • Sie soll die Grundlage bilden für verstärkte chinapolitische Koordinierung mit Stakeholdern in Deutschland, in Europa und darüber hinaus (Chinastrategie der Bundesregierung 2023: 9)
    Die Frage, inwiefern obige Zielsetzungen mittels der Chinastrategie erreicht werden können, steht wiederum auf einem anderen Blatt und ist der primäre Gegenstand dieses Artikels. Das jeweils in sechs Kapitel unterteilte Papier gibt einen Überblick über die deutsche Position gegenüber China insbesondere mit Hinblick auf politische und ökonomische Thematiken.

Einleitung
Die Herausforderungen, die jenes Unterfangen mit sich bringt, werden gleich auf den ersten Seiten deutlich. So charakterisiert die Einleitung China als Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen mit dem man in verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten möchte (muss), zum anderen rekurriert sie auf die Universalität der Menschenrechte sowie den moralischen Wertekanon, dem sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlt. Es wird dezidiert darauf verwiesen: „Die Menschenrechte sind für die Politik der Bundesregierung zentral. Wir respektieren die jeweils eigene Geschichte jedes Landes. Gleichzeitig sind die universellen Menschenrechte nicht relativierbar, sondern weltweit gültig“ (Chinastrategie der Bundesregierung: 12). Zusammengefasst: Deutschland möchte mit China, deren Menschenrechtsverständnis von der deutschen Norm abweicht, weiterhin gute Geschäfte machen, allerdings behält man sich das Recht vor, die Volksrepublik, wo nötig, in puncto Menschenrechte zu belehren. Die chinesischen außenpolitischen Leitlinien hingegen orientieren sich seit Mitte der 1950er Jahre an den sogenannten Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz: 1. Gegenseitige Achtung der Souveränität und territorialen Integrität, 2. Gegenseitige Nicht-Aggression, 3. Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der jeweils anderen Seite, 4. Gleichheit und gegenseitiger Nutzen sowie 5. Friedliche Koexistenz. Stellt man diese beiden Vorstellungen vergleichend nebeneinander, so sind die Unterschiede offenbar und kommen aus deutscher Perspektive einer Quadratur des Kreises nahe.

Deutsche China-Strategie im Rahmen der gemeinsamen EU-Chinapolitik
Mit Blick auf die deutsche China-Strategie im Kontext einer gemeinsamen EU-Chinapolitik fallen zwei Dinge unmittelbar ins Auge: Erstens die Tatsache, dass dieses Kapitel mit viel Wohlwollen gerade einmal anderthalb Seiten umfasst und zweitens, dass selbige erstaunlich inhaltsleer sind. In der überwiegenden Mehrzahl handelt es sich um im Konjunktiv formulierte Wünsche mit Bezug zu Schlagwörtern wie >>Chinapolitik der EU<<, >>Zielsetzungen der EU<< oder >>Konsens unter den Mitgliedsstaaten<<, auf handfeste konkrete Maßnahmen oder inhaltliche Einlassungen wartet man vergebens.

Bilaterale Beziehungen zu China
Im Bereich der bilateralen Beziehungen ist das geflügelte Wort „Dialog“. So verweist das Papier darauf, den Deutsch-Chinesischen Dialog in den verschiedensten Bereichen auszubauen, respektive zu intensivieren, angefangen beim Thema der Menschenrechte über strategisch-fachspezifische Themen wie zum Beispiel Rüstungskontrolle, bis hin zu ökonomischen Angelegenheiten. Ferner wird im Unterkapitel „Wahrung der Menschenrechte“ wortreich die aus deutscher Sicht defizitäre Menschenrechtslage innerhalb Chinas thematisiert. Inwiefern derartige Kommentare, die von China als eklatante Einmischung in seine inneren Angelegenheiten gewertet werden, dialogfördernd wirken, darf bezweifelt werden. Des Weiteren wird das Ziel formuliert, mittels Ausfuhrkontrollen dafür Sorge zu tragen, dass deutsche Produkte nicht für Menschenrechtsverletzungen genutzt werden. Ferner unterstützt Deutschland die Anwendung bzw. Verhängung von EU-Menschenrechtssanktionen gegen die Volksrepublik China. Angesichts der gegenwärtigen und zum Zeitpunkt der Publikation dieser Strategie bereits bestehenden schwierigen ökonomischen Lage Deutschlands eine gewagtes Unterfangen. Dies gilt umso mehr, als das China auf derartige Maßnahmen für gewöhnlich mit direkten oder indirekten Gegenmaßnahmen reagiert. Weiterhin wird die Bedeutung eines beidseitigen bildungs- und zivilgesellschaftlichen Austausches hervorgehoben.

Stärkung Deutschlands und der EU
Die Stärkung Deutschlands und der EU drückt sie primär in der Zielformulierung aus, die wirtschaftlichen Abhängigkeiten gegenüber der Volksrepublik China zurückzufahren. Des Weiteren soll in den kommenden Jahren die Attraktivität der EU, respektive Deutschlands, gestärkt werden. En détail bedeutet dies, dass die technologische Eigenständigkeit gewahrt und die Lieferketten diversifiziert werden sollen. Außerdem wird die Bedeutung von Exportkontrollen für sensible Technologien, insbesondere im Bereich „Dual-Use“, hervorgehoben. Ferner soll die Resilienz Deutschlands gegenüber möglichen chinesischen Einflussnahmen gestärkt werden sowie der Schutz kritischer Infrastruktur ausgebaut bzw. verstärkt werden. Wie diese Anliegen konkret erreicht werden sollen, bleibt allerdings weitestgehend offen.

Internationale Zusammenarbeit
Mit Hinblick auf das internationale Parkett wird neben den üblichen Floskeln zur Bedeutung internationaler Kooperation primär auf das Ziel verwiesen, ein ökonomisches respektive politisches Gegengewicht zu China aufzubauen, z.B. im Rahmen der Global-Gateway-Initiative und der Partnerschaft für Infrastruktur und Investitionen der G7 (PGII). Insbesondere die letztgenannten sind als extrem stark verzögerte Antwort auf Chinas Belt and Road Intitiative (BRI) zu verstehen, stellen in ihrem Umfang jedoch keine ernsthafte Konkurrenz dar. Im Bereich der Sicherheitspolitik wird auf die umfangreichen militärischen Aufrüstungsmaßnahmen verwiesen, welche sämtliche Teilstreitkräfte und Waffengattungen inkludiert. Außerdem werden auf die, aus deutscher Sicht, negativen Auswirkungen einer engeren Rüstungszusammenarbeit zwischen China und Russland im Kontext des Ukrainekriegs verwiesen. Ergänzend wird die deutsche Besorgnis über die chinesischen Aktivitäten im Indopazifik sowie der Antarktis artikuliert.

Chinapolitische Koordinierung und China-Kompetenz
Zu Beginn des letzten Kapitels wird auf das zentralistische chinesische Politsystem im Vergleich zum eher dezentralen Staatsaufbau Deutschlands verwiesen. Um die Nachteile der deutschen Dezentralität auszugleichen, wird der Aufbau einer vertieften Koordinierung der Chinapolitik innerhalb von bereits bestehenden Institutionen und Strukturen angepeilt. Dies umfasst unter anderem die Etablierung einer Staatssekretärinnen- und Staatssekretärsrunde China. Des Weiteren soll im Bereich der China-Kompetenz selbige innerhalb Deutschlands in den kommenden Jahren ausgebaut und vertieft werden. Dies umfasst querschnittsmäßig sowohl die Wissenschaft als auch Wirtschaft und Thinktanks. Außerdem soll der Austausch zwischen deutschen und chinesischen Jugendlichen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Studierenden verstärkt werden.

Fazit
Möchte man ein abschließendes Resümee ziehen, insbesondere mit Blick auf die in der China-Strategie eingangs definierten Ziele, so lässt sich Folgendes konstatieren.
Die erdrückende Mehrheit des Konzepts ist im Konjunktiv abgefasst, was nichts anderes bedeutet, als dass ein idealer Wunschzustand beschrieben wird. An und für sich genommen ist hieran auch nichts auszusetzen, schließlich dient ein politisches Strategiepapier dazu, zukünftige Ziele zu definieren. Hierzu ist es allerdings unerlässlich, konkrete Schritte aufzuzeigen, wie eben jene erreicht werden sollen. Des Weiteren ist es erforderlich, dass die angedachten Maßnahmen realistischer Natur sind und nicht auf einem primär idealistisch-moralischen Fundament ruhen, dass die politisch-ökonomischen Realitäten vernachlässigt. Es sind jedoch eben diese essentiellen Punkte, welche in überwältigender Mehrheit auf der Strecke bleiben. Fest steht jedenfalls, dass die globale politische und ökonomische Macht Chinas die Deutschlands bei weitem übertrifft, was als eine Tatsache anzuerkennen ist.
In diesem Kontext ist es freundlich formuliert ungewöhnlich, dass Deutschland seine Position im Bereich der Menschenrechte gegenüber China mit einem derart absolutistischen Anspruch artikuliert. Wohlwissend oder bewusst ignorierend, dass China dies als eklatante Einmischung in seine inneren Angelegenheiten ansieht, entsprechende Reaktionen inbegriffen. Wichtige niedergelegte Ziele, wie beispielsweise die Verringerung der ökonomischen Abhängigkeit von China, sind zwar formuliert, aber keinesfalls mit realistischen Mechanismen bzw. Maßnahmen zur Zielerreichung unterlegt. Wohlklingende Schlagwörter wie „De-Risking“ stellen hierbei einen völlig unzureichenden Ersatz dar. Die angedachte Staatssekretärinnen- und Staatssekretärsrunde China, welche für die Umsetzung der China-Strategie verantwortlich zeichnen soll, ist oberflächlich betrachtet ein sinnvoller Ansatz. Allerdings wird selbiger durch den Umstand konterkariert, dass es an konkreten und realistischen Maßnahmen zur Umsetzung fehlt. In seiner Gesamtheit lässt sich das Konzept als eine Ansammlung von politischen Wünschen zusammenfassen, welche allerdings mit der faktischen Realität nur bedingt etwas zu tun haben. Vorausschauende Politik zeichnet jedoch gerade dies aus, die Realität anzuerkennen und innerhalb der selbigen das bestmögliche zu erreichen.

Julian Tombarge, Student der Politikwissenschaft und Sinologie

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  • Die China-Strategie der Bundesregierung: Wohlklingende Worte – Ja. Inhaltliche Substanz – Nein.: Foto: Lara Jameson via pexels