Die Berlinale fand 2021 als Onlineevent statt. Ein Erfahrungsbericht.

Im Herbst 2020 verschickte die Berlinale eine so hoffnungsfrohe wie selbstbewusste Pressemitteilung. Man blicke der Zukunft zuversichtlich entgegen und habe sich entschieden, das Festival im Februar 2021 physisch vor Ort stattfinden zu lassen. Der darauffolgende Winter ist mittlerweile Geschichte und mit all seinen Komplikationen bekannt. So überraschte es kaum, als kurz vor Weihnachten korrigiert wurde: Das Filmfestival wird erstmals in seiner 71-jährigen Geschichte zweigeteilt stattfinden. Als internes, fünftägiges Onlineevent für Filmindustrie und Presse im Februar einerseits und als öffentliches Kinoereignis im Sommer andererseits, wenn Impfkampagne und Freiluftkino ein gemeinschaftliches Filmerlebnis hoffentlich wieder möglich machen. Nur die offizielle Jury durfte im Februar nach Berlin reisen und unter Einhaltung aller Sicherheitsvorkehrungen die Wettbewerbsfilme im Kino sichten.
Es handelte sich dabei um eine weitreichende Entscheidung. Denn mitnichten ist ein Filmfestival nur reines Filmeschauen. Vielmehr ist es ein sozialer Raum der Debatten, der Kontroversen, der Vernetzung. Der deutsche Regisseur Christian Petzold bezeichnete die Berlinale einst zurecht als „Labor“, in dem zehntausende Cineast*innen, Filmemacher*innen und die interessierte Öffentlichkeit zueinander in Beziehung treten. All das fiel in diesem Jahr also auch für die Berlinale aus, weswegen das Festival mit besonderer, wenngleich ambivalenter Spannung erwartet wurde.
Wie hat man sich ein solches Megaevent als Onlineausgabe vorzustellen? In organisatorischer Hinsicht griff die Berlinale auf die gängige Streamingtechnik zurück. Täglich punkt sieben Uhr wurden rund 20 Filme in einem nur Akkreditierten zugänglichen Bereich online gestellt und standen exakt 24 Stunden zur Verfügung. Wie auf den bekannten Portalen üblich, konnte sich die Zuschauer*innen dann je nach Zeitbudget und Interesse durch die Filmauswahl klicken. Dass die Sorge um das illegale Abgreifen und Verbreiten taufrischer Filmwerke groß war, zeigte die Nutzungsvereinbarung, die vor der ersten Sichtung bestätigt werden musste und die nicht nur ein gemeinsames Filmeschauen strikt untersagte, sondern sogar den täglichen Spielplan einer Geheimhaltungsklausel unterwarf.
Aus Sicht der Nutzenden galt es, die mittlerweile berühmt-berüchtigte Homeoffice-Falle zu umgehen. Zu groß war die Verlockung, in Jogginghose oder gleich ganz mit Laptop im Bett das Festival zu genießen. Gleichzeitig erschien es wenig attraktiv, im aufkeimenden Frühling fünf Tage das komplett verdunkelte WG-Zimmer nicht mehr zu verlassen. Selbstdisziplin war also gefordert, die einem normalerweise durch den zwangsläufigen Wechsel zwischen Kino und trautem Heim abgenommen wird: Zeitig aufstehen, Tagespläne erstellen, Pausen einhalten, einsetzende Müdigkeit ignorieren und dem sozialen Umfeld mitteilen, dass man für die kommenden Tage „offiziell gar nicht da“ sei. Und tatsächlich, allen Zweifeln zum Trotz: So ließ es sich dann bewerkstelligen und der berlinaletypische Durchschnitt von fünf Filmen pro Tag erreichen, bisweilen sogar toppen (man musste ja nicht die Kinos wechseln, in keiner Schlange anstehen und sich nicht um Pressetermine kümmern).
Und dafür wurde man belohnt. Es war vermutlich die größte Paradoxie in diesem merkwürdigen Setting, dass das gegenüber normalen Jahren signifikant eingekürzte Programm gute bis hervorragende Filme in Serie anbot. Ohne Übertreibung lässt sich festhalten, dass es sich bei diesem Jahrgang um den besten der letzten zehn Jahre handelte. Woran das lag, ist unklar, nur der Zufall kann ausgeschlossen werden. Denkbar ist, dass die Filmproduktion 2020 aufgrund der Pandemie generell stockte und nur den erfolgsträchtigen und professionalisierten Projekten Finanzierung gewährt wurde. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Berlinale durch die Programmkürzung gezwungen wurde, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dass dadurch viele mittelmäßige Produktionen, denen in normalen Jahrgängen eine Chance gegeben worden wäre, aus dem Angebot gestrichen wurden. Es wäre ein Gewinn, wenn dies als Erkenntnis auf künftige Jahrgänge übertragen werden würde!
Die Liste an Filmempfehlungen würde den Umfang dieses Textes sprengen. Es bleibt zu hoffen, dass jeder einzelne im Verlauf dieses Jahres in die Kinos kommen und dann im Detail besprochen werden kann. Stellvertretend sei auf den diesjährigen Gewinner hingewiesen, den rumänischen Film „Bad Luck Banging or Loony Porn“. Denn er ist ein Paradebeispiel für das, was man zukünftig vielleicht als „Pandemiefilm“ bezeichnen wird. Provokant wird die Geschichte einer Lehrerin erzählt, die verzweifelt versucht, ein Video, das sie beim Sex mit ihrem Partner zeigt und das gegen ihren Willen ins Internet gestellt wurde, wieder einzufangen. Die Pandemiesituation schlägt sich in diesem 2020 produzierten Film formal nieder. Erzwungener Maßen vor allem in Außenaufnahmen gedreht, macht Regisseur Radu Jude aus der Not eine Tugend und legt wiederkehrend Ansichten des modernen Bukarests frei, von einer verfallenen Kirche zwischen zwei Wohnsilos über eine trashig-verrostete Coca-Cola-Werbung bis hin zur Aufnahme eines Straßenhändlers. Pikant zudem: Alle Schauspieler*innen tragen Masken, halbdokumentarisch werden Reizbarkeit und Unruhe gezeigt, die monatelange Lockdowns mit sich brachten und die das gesellschaftliche Miteinander veränderten. Gezanke an der Supermarktkasse oder wildes Geschrei im Straßenverkehr.
Will man das gerade im Kino sehen? Fraglich, aber schon in wenigen Jahren wird dieser hochinteressante Film zu einem wichtigen Dokument einer Zeit, die wir so schnell nicht vergessen werden. Zurecht ausgezeichnet mit dem Goldenen Bären der 71. Berlinale.

Weitere Infos: www.berlinale.de

Bildquellen

  • Kino der Pandemie: Der rumänische Berlinalegewinner „Bad Luck Banging or Loony Porn“: © Silviu Gethie / Micro Film 2021