Die Ära des Berlinale-Leitungsduos Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek endet, bevor sie richtig begann. Krisen, Kriege und Missverständnisse stellten die Amtszeit unter keinen guten Stern

Tricia Tuttle soll es fortan richten. Die US-amerikanische Medienwissenschaftlerin und erfahrene Festivalmacherin wird in diesem Frühjahr die alleinige Leitung der Berlinale übernehmen und das Festival ab der kommenden Ausgabe federführend gestalten. Damit endet die Amtszeit von Carlo Chatrian, künstlerischer Leiter, und Mariette Rissenbeek, der kaufmännischen Führung. Damit endet auch eine Amtszeit, die vor gerade einmal fünf Jahren mit viel Hoffnung und auch einigen Vorschusslorbeeren begann und die nach 18 Jahren unter Vorgänger und Alleinherrscher Dieter Kosslick der angestaubten, trägen und überladenen Berlinale eine Frischzellenkur verpassen sollte. Vorgesehen war erstens: Ein neuer Anstrich für die einzelnen Sektionen, vor allem für den Wettbewerb des weltweit nach Cannes und Venedig wichtigsten Filmfestivals. Weniger sperrige Filme, die in der Zusammenstellung unter Kosslick kein klares Profil erkennen ließen, mehr Handschrift, mehr großes Kino. Zweitens: Eine Entlastung der Leitung durch die Schaffung einer Doppelspitze, die künstlerische und wirtschaftliche Fragen getrennt voneinander bearbeiten kann. Diese Umstrukturierung, angestoßen von der damaligen Kulturstaatsministerin Monika Grütters, sorgte in der Branche für viel Applaus und erschien bitter notwendig. Dass Kosslick beide Bereiche in Personalunion bearbeitete, nahmen viele als Hauptursache für das dröge Wettbewerbsprogramm, da ihm – vereinfacht gesagt – zu wenig Zeit für die Auseinandersetzung mit dem Kino unterstellt wurde, weil zu viel Zeit für die Akquise von Sponsoren draufging. Das führt direkt zum erstgenannten Punkt, nämlich der neuen Frische, die die Berlinale dringend brauchte: Eine Aufgabe für Carlo Chatrian, den italienischen Filmkritiker, der lange Jahre das renommierte Filmfestival in Locarno leitete. Ihm traute man zu, die Berlinale zu renovieren – mit Mut und jener Expertise, die es für das bisweilen avantgardistische und intellektuelle Locarno-Festival braucht. Chatrian strich einige Sektionen, die das Festival aufbliesen – bspw. das unsägliche „Kulinarische Kino“ –, und installierte eine neue namens „Encounters“, die experimentellen Filmen Raum geben sollte. Dass dies inhaltlich recht nah an der arrivierten, jahrzehntealten Berlinale-Reihe „Forum“ stand, empfanden viele Macher:innen und Fans des Forums als Affront. Auch nach der fünften Ausgabe in 2024 ist noch nicht klar, wozu es „Encounters“ braucht und welchen kuratorischen Mehrwert die Sektion anbieten kann.

Filmstill aus „Dahomey“ © Les Films du Losange

Ein ähnliches Zeugnis wird Chatrian in Bezug auf die Gestaltung des Wettbewerbs ausgestellt. Bis zuletzt hat sich nicht schlüssig ergeben, welche Handschrift er anlegt, welches Kino er fördern und welches Profil er der wichtigsten Sektion und damit dem Festival an sich verpassen möchte. Allein die Tatsache, dass in fünf Jahrgängen zwei Dokumentarfilme den Goldenen Bären gewannen – zuletzt vor wenigen Tagen die frz.-senegalesisch-beninische Koproduktion Dahomey über die Rückführung von in der Kolonialzeit geraubten Kunstgegenständen – deutet ein Mangel an beeindruckendem Erzählkino zumindest an. Eine Entwicklung, die sich für die Berlinale-Jahrgänge nach Corona verstärkt beobachten lässt, als irgendwie zusammengestellte Filme aus Deutschland und der Welt viele Fragezeichen, viel Langeweile hinterließen. Manch einer spricht von einem kuratorischen Niedergang, nachdem 2020 und 2021 mit Undine, First Cow, Herr Bachmann und Anderen Statements gesetzt und Filme präsentiert werden konnten, die nicht nur die Kritik und das Publikum begeisterten, sondern die auch an den Kinokassen Erfolg hatten und damit alle Ziele erreichen konnten, die man sich von einem Festivalbeitrag wünscht.
Man darf allerdings nicht vergessen, dass das Leitungsduo auch vor externe Herausforderungen gestellt wurde, für die man nichts konnte, mit denen aber umgegangen werden musste: 2020 kam wenige Tage vor der ersten Chatrian-Berlinale die Nazi-Vergangenheit des Berlinale Gründers Alfred Bauer an die Öffentlichkeit. Das musste moderiert, der Alfred-Bauer-Spezialpreis in „Preis der Jury“ umbenannt werden. Zeitgleich zogen im Februar 2020 die ersten Corona-Wolken auf und mit denen freilich erste Unsicherheiten. Entsprechend 2021: Zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals fand die Berlinale online statt. Auch und vermutlich gerade für eine so enorm große Veranstaltung eine logistische und inhaltliche Herausforderung. 2022 fuhr das Festival auf Halbgas mit strengen Testregimes­ und stark eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten. 2023 dann die eigentlich erste Ausgabe unter Normalbedingungen, aber unter den Eindrücken des Ukraine-Kriegs und schon mit ersten Sparzwängen. Diese nahmen (auch) bei der Berlinale zu, gleichzeitig schlossen Berliner Kinos oder bauten um, Kinosäle wurden knapper und knapper. Noch im letzten Sommer beklagte Rissenbeek ein Finanzierungsloch von 4 Mio. € aufgrund gestiegener
Lohn-,­ Energie und Mietkos­ten bei nicht angepasster Förderung durch den Bund. Es wurden Sektionen gestrichen, Klinken geputzt und viel gejammert – am Ende wurde die Lücke irgendwie gestopft. Nein, man mochte wahrlich nicht mit den beiden tauschen: die Berlinale, sie macht(e) in den letzten Jahren einfach keinen richtigen Spaß mehr.
Und so geht es nun quasi zurück auf Los: Nachdem Rissenbeek im vergangenen Sommer ankündigte, ihren Vertrag 2024 nicht verlängern, sondern lieber in Ruhestand gehen zu wollen, Chatrian auf missglückte Art und Weise von Claudia Roth über die Zukunft des Festivals informiert wurde und daraufhin indigniert bekanntgab, seinen Vertrag ebenfalls auslaufen zu lassen, wird die Festivalleitung nun doch wieder aus einer Hand geführt werden. Wieder mal sind alle gespannt, wieder mal gibt es einen Neuanfang. Vielleicht wird alles anders, vielleicht auch nicht – man wird es sehen: Im Februar 2025 startet die 75. Berlinale.

Bildquellen

  • Filmstill aus „Dahomey“: © Les Films du Losange
  • Ihr Stern ging nie so richtig auf: Das ehemalige Leitungsteam der Berlinale Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian: © Alexander Janetzko / Berlinale 2019