Der Circo Aereo zeigt im Chamäleon Berlin „in_between“, eine mitreißende Inszenierung des Nouveau-Cirque-Regisseurs Maksim Komaro

Onni Toivonen beim federleichten Kulissenwechsel
Foto: Andy Phillipson

Kulissenwechsel in Berlin. Spätestens dann, wenn Onni Toivonen vor einem roten Vorhang eine Feder auf seiner Stirn balanciert, während der Jongleur drei weitere in einer mühelos erscheinenden Formation durch die Luft sausen lässt, wird auch den letzten Besucher:innen im Chamäleon bewusst, dass sich zeitgenössischer Zirkus längst den Staub alter Tage von der Schulter geklopft hat. Aber alles auf Anfang.
Ein Besuch in der Berliner Kreativstätte des zeitgenössischen Zirkus gleicht zunächst einer fantastischen Zeitreise. Nach dem Entwerten des Billets wird man zum Tisch geleitet. Der Raum ist groß, Fischgrätparkett am Boden, dunkle Stühle an Vierer-Tischen, auf denen Kerzen den Saal erleuchten. Am Ende ein schwerer roter Vorhang. Das aufgeregte Murmeln des Publikums verstummt, als ein Gong ertönt. Langsam schiebt sich der Vorhang beiseite und die Reise in die wundersamen Traumwelten des Regisseurs Maksim Komaro beginnt.
Komaro, wohl einer der bekanntesten Namen des Nouveau Cirque, war 1996 Gründungsmitglied des finnischen Circo Aereo, der mit Auftritten in über 40 Ländern und der Auszeichnung des Finnland-Preises durch das Ministerium für Bildung und Kultur zu den weltweit einflussreichsten und innovativsten Kompagnien der Szene gehört. Und das nicht ohne Grund.
Mit einem überlauten Krachen schwingt ein Seil an einem Flaschenzug von der Decke. Wenige Augenblicke später wird Sina Saari inmitten des Publikums daran hochklettern. Mit akrobatischer Präzision und begleitet vom hölzernen Knarzen der Winden beginnt ein Spiel der Höhen und Tiefen. Drei weitere Künstler:innen ziehen am anderen Ende des Seiles, während Saari mal den Flaschenzug berührend und dann wieder mit der Nasenspitze kurz vorm Boden eine atemlose Dynamik entstehen lässt. Am Ende ist es der Schwede Vejde Grind, der das Seil herunterzieht – doch statt des lauten Knalls, der bereits die Performance einläutete, landet das Seil sanft in seinen Händen. „In_between“ spielt mit den Erwartungen des Publikums. Laut und leise, dynamisch und verspielt, aber nie vorhersehbar, eröffnen sich wundersame Welten auf der gekonnt inszenierten Bühne in Berlin Mitte (Bühnenbild: Pavla Kamánova).
Ein Sofa, ein Sessel, ein Kronleuchter und zwei Männer. Es wird atemlos, als eine Hausparty zu kunstvollem Schwingen am Kronleuchter führt, während die Artist:innen wortwörtlich durch Wände springen oder in Sofas verschwinden. Wie im Rausch zirkulieren sie, jeder Millimeter der Bühne wird zur Performance. Traum oder realer Irrsinn? Die Frage bleibt offen, als sich der Vorhang nach dem ersten Akt schließt.

Anna Shvedkova und Saleh Yazdani im knisternden Duett Fotos: Andy Phillipson

Höhepunkt der zweiten Hälfte ist ohne Frage das Duett von Anna Shvedkova und Saleh Yazdani. Beinahe mühelos erscheint es, als der Äquilibrist Yazdani, der bereits zuvor in seinem Solo mit einem Skelett seine Balance unter Beweis stellte, auf den Schultern oder den Oberschenkeln der Akrobatin und Trapezkünstlerin Handstände vollführt. Alberne Geschlechterklischees werden einfach weggewischt, wenn die Akrobatin ihre Kraft zelebriert und das intensive, beinahe zerbrechliche Zusammenspiel der Künstler:innen die Luft zum Knistern bringt.
Der Regisseur Komaro sagte einst in einem Interview, dass der Zirkus an die Seite seiner Schwestern Theater und Tanz gehöre, nicht aber ins Museum der Kindheit. Der wundersame Zauber, der an diesem Abend in der Luft hing, steht den Schwestern der Bühnenkunst jedenfalls in nichts nach.

Im September feierte zudem „The Mirror“ der Zirkuskompagnie Gravity & Other Myths im Chamäleon Premiere. Ein weiteres Mal wird die Schwerkraft bezwungen, während sich raffinierte Körperkunst-Performances mit Geschlechterrollen auseinandersetzen und die Möglichkeit des Seins ausloten. Bis 7. Januar 2024. Infos & Tickets: chamaeleonberlin.com

Bildquellen

  • Onni Toivonen beim federleichten Kulissenwechsel: Foto: Andy Phillipson
  • Anna Shvedkova und Saleh Yazdani im knisternden Duett: Foto: Andy Phillipson
  • Jeder Millimeter der Bühne wird zur Performance: Foto: Andy Phillipson