Das Musée des Beaux-Arts in Mulhouse zeigt Fotografien von Françoise Saur

La guerre tirage encres pigmentaires, 80×120 cm
Foto: Musée des Beaux-Arts

Das Mühlhausener Kunstmuseum widmet eine große Einzelausstellung der namhaften Fotografin Françoise Saur, die in der Nähe von Colmar lebt und arbeitet. Unter dem Titel Ce qu‘il en reste zeigt die Künstlerin, die 1979 als erste Frau den bedeutenden Fotografie-Preis Nicéphore Niépce erhielt, welche Reichtümer der Erinnerung übrig bleiben, wenn ein Familien­erbe wahrgenommen, wiederentdeckt und ausgebreitet wird. Françoise Saur versteht die nachgelassenen Zeugnisse beispielhaft, um allgemeingültige Aspekte einer Vergangenheitsbetrachtung aufzuzeigen, die das Einzelschicksal wie die familiäre Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft betrifft. In fünf „Zimmern“ stellt sie Bilder, Objekte und Dokumente thematisch zusammen, die über das Leben der eigenen Vorfahren hinausgehen und zugleich an europäische Geschichtsmuster – z. B. des Kolonialismus – anknüpfen. Für die Ausstellung entstanden großformatige Fotoarbeiten, die mit meist historischen kleinen S/W-Fotos sowie schriftlichen Zeugnissen und Dokumenten in Dialog treten.
Im ersten Raum der „Koffer“ führt uns die Künstlerin exemplarisch Lebenszeugnisse aus der Familiengeschichte in kleinen Bildgruppen vor, die mit sozialen Aspekten von Arbeit, mit Immigration und Reisen in Verbindung stehen. Der zweite Raum zeigt die Serie der „Anhäufungen“, die von der Ambivalenz zwischen der Faszination des Schönen und dem eigentlich lächerlich Unnützen berichten. Saur stellt sie uns als „Natures Mortes“, als Stillleben toter Dinge vor Augen – in voller Schönheit, wie die gespiegelten Kostbarkeiten der Kristallgläser und Karaffen, das dunkel glänzende Silber der Bestecke und Platten, das helle Porzellan mit Goldrand. Dazu gehören auch das Tableau der Schlüssel, die skulptural hängenden Tischdecken, die perlmuttschimmernden Knöpfe arrangiert in ebenso schimmernden Kammmuscheln wie auch die drei Stapel dick verstaubter Bücher. Ebenfalls Akkumulationen bilden die Menschengruppen in den dokumentarischen Fotos – z. B. Schulkassen oder Vereinsmitglieder –, die den Menschen nur als Mengenwesen sichtbar machen.
Der dritte Raum bietet eine Überraschung in Gestalt einer Videoarbeit, in der Saur aus ihrem seit den 1970er Jahren entstandenen Fototagebuch von ca. 11300 Seiten Abzüge montiert und in Zusammenarbeit mit dem Musiker Joris Rühl in ein dichtes und poetisches Werk von 14 Minuten umgesetzt hat. Das „Prises de vie“ betitelte S/W-Video bietet im Raum von „Leben und Tod“ eine beeindruckend lebendige Fülle und gestalterische Vielfalt, die es zu einem Hauptwerk der Künstlerin machen. Zum Video liegt eine Publikation vor.
Der Aspekt von Tod und Vergänglichkeit ist in Portraits von aufgebahrten Gestorbenen und in S/W-Aufnahmen von alten Häusern im Moment der Zerstörung durch die Abrissbirne festgehalten.
Raum vier „Tatsachen des Lebens“ knüpft an die Akkumulationen an und stellt das Foto nochmals als Geschichtsdokument und Gedächtnisspeicher vor: Alte Geldscheine, Diplome, Zertifikate und Medaillen zeugen vom sozialen Aufstieg im zivilen wie militärischen Leben. Andere Objekte erinnern an die Dominanz des Religiösen.
Eine Rückbindung an ihre eigene Familiengeschichte stellt Saur in Raum fünf dar: „Orientalismen“ beziehen sich – ausgehend von ihrem Geburtsort Alger – auf das kolonisierte Algerien, aber auch auf die Suche nach den eigenen Wurzeln. Dies hatte sich bereits in früheren fotografischen Arbeiten gezeigt: einem Triptychon, das selbst in Schwarzweiß von orientalischer Ornamentfreude und weiblicher Üppigkeit zeugt, und einem dreiteiligen Farbmotiv mit zwei modern wirkenden algerischen Frauen und einer orientalisch ausgeschmückten Halle. In einer großen Tischvitrine sind Foto-Postkarten als zeitgenössische Zeugnisse des Exotischen ausgelegt. Ergänzend dazu zeigt Saur aus ihrem Familienarchiv in einem Holzrahmen historische Fotos aus dem Umfeld ihres in Alger als Stadtplaner arbeitenden Vaters.
So rundet sich ein künstlerisches Werk und Leben – in fünf „Aufzügen“ und mit vielen privaten Themen, die sich mit universellen Narrativen überschneiden.
Françoise Saur (*1949 in Alger) absolvierte ihre Ausbildung zunächst an der École Louis Lumière in Paris, anschließend an der Folkwangschule in Essen bei Otto Steinert. Sie zieht dann ins Elsass, wo sie seit 1968 als Fotografin arbeitet.

Françoise Saur, Ce qu‘il en reste – Was übrig bleibt. Mulhouse, Musée des Beaux-Arts, Öffnungszeiten: 13-18.30 Uhr, Di geschlossen. Bis 15. Mai 2022. www.beaux-arts.musees-mulhouse.fr

Bildquellen

  • La guerre tirage encres pigmentaires, 80×120 cm: Foto: Musée des Beaux-Arts
  • Carte postale issue dun carnet „Beautés arabes“: Foto: Musée des Beaux-Arts