Christo & Jeanne-Claude – ungewohnte Sinneserfahrungen

Die letzten Vorbereitungen laufen, in Paris wird der Arc de Triomphe verhüllt: 25.000 Quadratmeter blau-silberner Stoff sowie rotes Seil waren schon in Zusammenarbeit mit dem Centre Pompidou präpariert worden, als Christo im Mai 2020 verstarb. Aber nun wird das Kunstprojekt posthum zu seinen Ehren stattfinden und das französische Wahrzeichen vom 18. September bis 3. Oktober 2021 in ein neues Licht setzen.

Verhüllung des Pont Neuf in Paris, 1985, Fotografie von Wolfgang Volz, Sammlung Würth.

Ästhetische Erfahrung ermöglichen, die schließlich Voraussetzung für Bewusstsein und sensibles Denken ist, darf als Hauptanliegen des Künstlerpaares Christo (1935-2020) & Jeanne-Claude (1935-2009) gelten. Seit den 1960er Jahren wurde das Duo durch außerordentliche Kunstaktionen bekannt, etwa mit dem „Running Fence“ (rund vierzig Kilometer Stoffbahnen durch Kaliforniens Landschaft), den „Surrounded Islands“ (elf Inseln vor Miami mit rosarotem Stoff umsäumt) oder den siebentausend „Golden Gates“, die den Besucher im New Yorker Central Park kilometerlang durch Tore mit wehenden safranfarbenen Stoffbahnen flanieren ließen; Publikumsmagneten waren des Weiteren der 1995 mit feuerfestem Gewebe eingekleidete Berliner Reichstag, die „Wrapped Trees“ in Riehen und die „Floating Piers“ am Lago Iseo.

Das künstlerische Verfahren von Christo & Jeanne-Claude macht Landschaften, Gegenstände und Gebäude neu wahrnehmbar, will zu deren Wirklichkeit führen; es umfasst Elemente von Malerei, Skulptur, Architektur und Environment-Art und bezieht stets das Wechselspiel zwischen Material und natürlichem Kontext ein. So entstehen etwa durch textile Falten, die Wind und Sonne, Licht- und Bewegungseffekte aufnehmen, subtile Formen, ja phänomenale Bilder. Obwohl diese Kunstwerke erheblichen Aufwand verlangen, an dem stets hunderte Menschen mitwirken, betonen sie das Transitorische und zeitlich Begrenzte; meist bleiben sie nur vierzehn Tage. Die Vision des Künstlerpaars lautet: „Alle unsere Werke besitzen eine sehr ausgeprägte nomadische Qualität (…) Niemand kann diese Projekte kaufen (…). Unser Werk handelt von der Freiheit, und Freiheit ist der Feind allen Besitzanspruchs, und Besitz ist gleichbedeutend mit Dauer.“ An den Ereignissen können die Besucher kostenlos teilnehmen, der Entstehungs- und Rezeptionsprozess gelten als das eigentliche Kunstwerk.

Dauerhaft erhalten bleiben Zeichnungen, Fotos, Collagen und Editionen; besonders wertvoll sind hier kleinformatige Montagen, die den geographischen Ort eines Projekts im Vorfeld skizzieren, auch mit Modellen aus Papier, die fotografisch und malerisch bearbeitet wurden. Eine beträchtliche Anzahl solch kostbarer „Relikte“ veranschaulicht derzeit im Musée Wurth in Erstein die künstlerische Entwicklung und Arbeitsweise von Christo & Jeanne-Claude. An diesen zeigt sich u.a., dass Christo ein hinreißender Zeichner ist; anfangs verkleidete er vor allem Alltagsgegenstände mit Papier und Gewebe, bevor er im Duo mit Jeanne-Claude Aktionen im öffentlichen Raum realisierte, wovon jede ein Abenteuer und ein farblich prägnanter Eyecatcher war. Ein Katalog (Swiridoff Verlag), der die Schau begleitet, ruft in Erinnerung, wie Christo & Jeanne-Claude unseren Horizont erweitert haben – als Vorgeschmack auf die bevorstehende Verhüllung des geschichtsträchtigen Triumphbogens an der Place de l‘Étoile.

Christo & Jeanne-Claude. Musée Wurth Erstein. F – 67158 Erstein. Di – Sa 10 – 17, So 10-18 Uhr. Bis 20. Oktober 2021

Bildquellen

  • Verhüllung des Pont Neuf in Paris, 1985, Fotografie von Wolfgang Volz, Sammlung Würth.: © Wolfgang Volz - © Christo
  • Christo & Jeanne-Claude verhüllten den Reichstag in Berlin, Modell aus der Sammlung Würth.: © Philipp Schönborn, München - © Christo