Chemnitz ist europäische Kulturhauptstadt 2025 – ein Blick vor Ort und hinter die Kulissen zeichnet ein buntes Bild der sächsischen Karl-Marx-Stadt
Es gibt wohl kaum jemanden in Chemnitz, der Jan Kummer nicht kennt. Zumindest nicht in der Kunstszene. Schon vor der Wende war der 59-Jährige sehr umtriebig. Als Musiker gehörte er von 1984 bis 1992 dem Avantgarde-Künstlerkollektiv AG. Geige an, das bereits vor dem Mauerfall über die Grenzen der DDR hinaus bekannt war. 1999 zählte der Vater der Kraftklub-Musiker Felix und Till Kummer sowie der Blond-Musikerinnen Nina und Lotta Kummer zu den Gründungsmitgliedern des Clubs Atomino. Dieser Ankerpunkt der Chemnitzer (Sub-)Kultur hat mittlerweile auf einem Fabrikgelände seinen sechsten Standort gefunden.
An diesem Abend findet dort Bingo statt. Im Publikum sitzen fast ausschließlich junge Leute, die wirklich bei jeder Zahl mitfiebern. Die Rolle des Moderators übernimmt Jan Kummer, seine Frau, die Schauspielerin und Kunstvermittlerin Beate Düber, gibt die Bingo-Fee. Sie bewegt die magische Trommel mit den Zahlen. „In Sachsen geht es demokratisch zu“, kommentiert Jan Kummer mit lakonischem Humor. Wenig später legt er nach: „Ich bin ganz verunsichert, weil ich rechts stehe. Vielleicht sollte ich lieber links stehen.“

Letztlich tauscht er aber nicht mit Beate Düber den Platz. Wo sich die Familie Kummer-Düber politisch verortet, wissen in Chemnitz sowieso alle. Ganz pragmatisch hat sie sich 2018 an der Organisation des „Wir sind mehr“-Konzerts beteiligt, nachdem ein Mann bei einer Messerstecherei auf dem Stadtfest getötet worden war. Verantwortlich für seinen Tod sollen zwei Asylbewerber sein – der eine wurde verurteilt, der andere ist bis heute auf der Flucht. Nach der Tat gab es Proteste. Neonazis demonstrierten mit sogenannten besorgten Bürgern.
„Ist besorgter Bürger eigentlich ein Beruf?“ fragt Jan Kummer beim Bingo-Abend. Solche Sticheleien behagen in Sachsen nicht jedem. Deswegen stören sich einige daran, dass eines der Kummer-Werke zum Kunst- und Kulturweg Purple Path gehört, der Chemnitz mit 38 umliegenden Orten verbindet. Gemeinsam gelten sie neben der slowenischen Stadt Nova Gorica und dem italienischen Gorizia als Kulturhauptstadt Europas – mit rund 1000 Veranstaltungen, die 2025 stattfinden. In Gersdorf am Fuße des Erzgebirges stößt man auf „Heimat Ensemble II“, eine von Jan Kummers Arbeiten, die nicht zufällig an Micky Maus erinnert. „Zu DDR-Zeiten“, erzählt der Künstler, „haben wir uns aus verschiedenen Materialien unsere eigene Micky Maus gebastelt.“
Neben diesem Objekt trägt Jan Kummer noch mehr zum Projekt Kulturhauptstadt bei. Mit seiner Frau und weiteren Mitstreitern, die sich als Institut für Ostmoderne e.V. zusammengefunden haben, hat er einen Beitrag namens „Fritz51“ konzipiert. Im Mittelpunkt steht ein gut vierwöchiges Betonfestival. Inspiriert hat diese Veranstaltung das Wohngebiet Fritz Heckert, genannt das Heckert-Gebiet oder einfach Heckert. In der DDR, erinnert sich Jan Kummer sei es das drittgrößte Neubaugebiet gewesen: „Dort eine Wohnung zu bekommen, war wie ein Lottogewinn. Denn die Altbauten waren damals nicht so schön hergerichtet wie heute – sie hatten nur Plumpsklos und kaltes Wasser.“
In den 90er Jahren verschlechterte sich das Image des Heckerts allerdings zusehends. Viele zogen weg, in den Westen oder in die schickeren Gründerzeitviertel mit den Jugendstilhäusern. Das Heckert wurde ein Hotspot für Rechte. Auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, das Kerntrio des „Nationalistischen Untergrunds“ (NSU), sollen in der Gegend gewohnt haben.
Inzwischen hat es einen Strukturwandel gegeben, besonders für Osteuropäer ist das Heckert heute attraktiv. „Schon vor dem Krieg gab es eine starke ukrainische Community“, sagt Beate Düber. Nicht nur deshalb hat sich das Gebiet ziemlich verändert. Etwa 11 000 der ursprünglich 31 000 Wohneinheiten wurden bis 2009 abgerissen. Am Rand wurden Einfamilienhäuser gebaut. Es gibt viel Grün. „Es sieht im Heckert jetzt wohl so aus, wie man es sich in der DDR vorgestellt hat“, fährt Beate Düber fort. Sie spricht sogar von einer „Bullerbü-Optik“.
So idyllisch war es im Heckert noch nicht, als der Rapper Trettmann dort aufgewachsen ist. Er wäre prädestiniert dafür, beim Betonfestival aufzutreten. Ob er kommen wird, steht noch nicht fest. Sicher ist hingegen, dass osteuropäische Bands Lieder über Beton oder Plattenbauten covern werden. Etwa Sidos „Mein Block“. Erweitert werden die Konzerte um eine Ausstellung und Diskussionen, ein Hörarchiv wird abrufbar sein. Etwas Süßes gibt es schon jetzt. „Als Kulturhauptstadt brauchen wir ein eigenes Gebäck wie Leipziger Lerche oder Frankfurter Kranz“, führt Beate Düber aus. Sie hat einen Keks in Form einer verkleinerten WBS-70-Platte, dem Standardformat für Plattenbauten, kreiert: „Dieser Keks ist wie Chemnitz – auf den ersten Blick grau. Aber wenn man ihn probiert, schmeckt er eigentlich gut.“

Mehr als dieses symbolträchtige Gebäck hätten sich AG.-Geige-Fans wahrscheinlich ein Comeback ihrer Lieblingsband in der Kulturhauptstadt gewünscht. „Plötzlich wieder mit einem 80er-Jahre-Sound aufzutreten, wäre so ein nostalgisches Ding“, winkt Jan Kummer ab. „Seinerzeit waren wir progressiv und spannend, dabei wollen wir es belassen.“ Ihm reicht es, wenn AG.-Geige-Deluxe-Boxen veröffentlicht werden, für die sich sogar die jüngere Generation begeistert: „Warum sollte ich die schöne Legende kaputtmachen, indem ich als alter Sack wieder auf die Bühne gehe?“
Dennoch hat er kein Problem, ein bisschen über die Vergangenheit zu philosophieren. Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt, habe in der DDR einen Sonderstatus gehabt: „Es war die Hauptstadt des Autodidaktentums.“ In der Provinz war man nicht so auf dem Präsentierteller wie in Dresden. Dennoch hatte die Obrigkeit auch AG. Geige auf dem Kieker: „In der Diktatur wird Kunst ja immer argwöhnisch beobachtet.“
Nur konnte die SED nicht so richtig etwas mit den dadaistischen Texten anfangen. Das hielt sie indes nicht davon ab, Einladungen aus dem Ausland zu sabotieren. Doch die AG.-Geige-Mitglieder wussten zu tricksen. Um überhaupt eine Genehmigung für Auftritte zu kriegen, ließ sich die Band als Volkskunstkollektiv einstufen. Einfach, weil die Hürde in diesem Bereich nicht so hoch wie in der Populärmusik war. Mit Finesse kam man eben selbst in der DDR vorwärts…
Die 90er Jahre hingegen waren in Ostdeutschland eine ziemlich unorthodoxe Zeit. Daran erinnert sich Jan Kummer, als er die Atomino-Startphase Revue passieren lässt. Er hatte gerade seinen Plattenladen aufgegeben und funktionierte gemeinsam mit einem Kumpel eine Bar in einem Fabrikgebäude in einen Club um. „Damals ging es schön anarchistisch zu“, lässt er die Vergangenheit Revue passieren. „Wir haben einfach noch einen weiteren Saal genutzt, das hat das Ordnungsamt gar nicht interessiert.“
Zunächst betrieben die Macher das Atomino privat – mit mäßigem finanziellen Erfolg: „Weil wir immer nur plus minus null über die Runden kamen, haben wir einen Verein gegründet.“ Ihm gehört inzwischen die nächste Generation an, die Geschäftsführerin ist Maria Perez. Sie referiert, wie sich das Atomino Mitte Juni im Rahmen der Kulturhauptstadt präsentieren wird: „Wir planen eine Mischung aus Konferenz und Festival. Tagsüber wollen wir inhaltliche Dinge besprechen, abends gemeinsam feiern.“ Ein zentraler Punkt dabei ist das Netzwerken, ebenso sollen Fragen zu Nachhaltigkeit oder Inklusion erörtert werden. Mit dem Ziel zu zeigen, dass sich in Clubs nicht alles nur um Eskapismus und Exzesse dreht. Sie sind Begegnungsorte, in denen sozialer Austausch stattfindet.
So ein Blick hinter die Fassade zählt in Chemnitz, das sich endlich von seinem braunen Image befreien will, sehr viel, darum steht die Kulturhauptstadt unter dem Motto „C the unseen…“. Direkt ins Auge sticht die bunte Esse des Heizkraftwerks Chemnitz-Nord, ein Entwurf des französischen Künstlers Daniel Buren. Sie strahlt nachts weit über die Stadtgrenzen hinaus. Was dagegen längst nicht jeder weiß: Der Maler Karl Schmidt-Rottluff wurde in einem Vorort von Chemnitz geboren, der Anfang des 20. Jahrhunderts in die Stadt eingemeindet worden ist. Im Frühjahr wird in seinem Elternhaus ein Museum eröffnet, das dem Expressionisten und Mitbegründer der Künstlergruppe Brücke gewidmet ist.
Auch Edvard Munch hat sich in Chemnitz aufgehalten. Der Strumpffabrikant Herbert Eugen Esche lud den norwegischen Maler in seine Villa Esche ein, damit er ihn und seine Familie malen konnte. Entstanden sind sechs Porträts sowie eine Landschaft. Allerdings treten nicht sie in der Munch-Ausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz in den Vordergrund, sondern das Thema Angst.
Nicht weniger als der Expressionist Munk begeisterte ein Vertreter des Jugendstils den Textilindustriellen. Seine Villa Esche ließ er vom belgischen Architekten und Designer Henry van de Velde entwerfen. Heute beherbergt sie das Henry van de Velde Museum. Dort und in den Kunstsammlungen am Theaterplatz läuft die Schau „Reform of Life & Henry van de Velde mittendrin“.
Neben der Hochkultur ist in Chemnitz genauso Raum für Bodenständiges. In Nachbarschaftsaktionen werden gemeinsam Bäume gepflanzt. Gewürdigt werden zudem die etwa 30 000 Garagen, die die Chemnitzer in der DDR überall in der Stadt gebaut haben. Teils als Begegnungsstätten, teils als Rückzugsorte ins Private. Das Projekt #3000Garagen spürt der Frage nach, welche Rolle diese Einstellräume heute noch spielen. Die Fotografin Maria Sturm zum Beispiel stellt 100 Garagenporträts aus.
Wer die Stadt besser kennenlernen möchte, kann sich von mehr als 600 Volunteers ihr Chemnitz zeigen lassen. In die Eröffnungsperformance „Everybody dance now“ vor der Pressekonferenz in der ehemaligen Industriehalle Hartmann sind ebenfalls Bürger eingebunden. Die 72-jährige Conny beschreibt ihre Vision für die Kulturhauptstadt: „Wir haben die Chance zu zeigen, dass wir etwas bewegen können. Wir können eine bunte Gesellschaft sein.“ Sven Schulze, Bürgermeister von Chemnitz, ergänzt: „Mein Wunsch wäre es, dass wir Ende 2025 eine Region sind, auf die wir mit Stolz und andere mit Respekt blicken.“
Weitere Infos: www.chemnitz2025.de
Bildquellen
- Jan Kummer: „Heimat Ensemble II“ © Jan Kummer,: Foto: Ernesto Uhlmann
- Kunstprojekt des belgischen Künstlers Larsen Bervoets auf dem Dach der Stadthalle: © Johannes Richter
- Chemnitz Wirkbau, ehemaliger Industriekomplex in Altchemnitz © Ernesto Uhlmann,: Courtesy des EUROPA-Schriftzugs: morePlatz Berlin