In einem Heldinnenepos setzt die Autorin Anne Weber der Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir ein literarisches Denkmal

Der schlichte, anheimelnde Buchtitel „Annette“ wird auf dem Cover konterkariert durch den Paukenschlag im Subtitle: Ein Heldinnenepos. Dies lässt auf eine besondere Beziehung der Autorin zu ihrer Titelfigur schließen. Erst recht, wenn man weiß, dass diese noch lebt. Und so ist es auch.
Anne Weber hat ihre heute 97-jährige Protagonistin Annette, mit richtigem Namen Anne Beaumanoir, bei einer Podiumsdiskussion in Frankreich kennengelernt. Gleich am Anfang einer ihrer wegen Corona noch seltenen öffentlichen Lesungen nach der Buchpreisverleihung in der Buchhandlung in der Rainhofscheune in Kirchzarten-Burg eröffnet die Autorin: „Ich habe mich sofort in sie verliebt“. Das trotz ihres hohen Alters ungebändigte Feuer ihrer blauen Augen, die Klarheit ihrer Rede und die ungebrochene Persönlichkeit seien unwiderstehlich gewesen. Man glaubt ihr sofort, denn auch Anne Webers Augen leuchten.

Der Inhalt
Annette (*1923) wächst in der bretonischen Stadt Dinan in einfachen Verhältnissen auf. Das kleine Café-Restaurant ihrer Eltern wird ab 1936 Treffpunkt geflüchteter Antifaschisten aus dem spanischen Bürgerkrieg. 1938 lernt sie eine aus Nazi-Deutschland Geflüchtete kennen, die ihr die Lage dort und insbesondere die brutale Hinrichtung ihres Onkels nach Folter durch die braune Pest schildert. Als die deutsche Wehrmacht 1940 in Frankreich einmarschiert, erledigt sie für Résistance-Mitglieder aus ihrem Bekanntenkreis erste konspirative Transport- und Kurieraufträge. Nach Aufnahme ihres Medizinstudiums in Rennes und später in Paris wird der Kontakt zum Widerstand immer stärker und Annette schließt sich in der Hauptstadt der kommunistischen Partei PCF an. Sie verliebt sich in Roland, der zwar auch in der Résistance kämpft, aber außerhalb der PCF. Eine solche Konstellation verstößt gegen die strengen Illegalitätsregeln der Partei. Als sie auch noch eigenmächtig „nur“ aus humanitärem Mitleid unter abenteuerlichen Umständen zwei jüdische Kinder und ein Baby vor dem Zugriff der Nazis rettet und damit nach offizieller Lesart die Partei gefährdet, werden sie und Roland nach Lyon strafversetzt. Bereits hier wird deutlich, dass die Hauptmotive für Annettes politischen Kampf nicht in der blinden Befolgung einer Parteidoktrin zu finden sind. Roland gerät in die Fänge der Deutschen und wird ermordet. Für Trauer bleibt nicht viel Zeit. Sie schließt ihr Studium ab, wird Ärztin und landet nach mehreren Stationen nach Abzug der Deutschen im Auftrag der Partei in Marseille. Dort Heirat mit Joseph Robert, dem mit sie zwei Kinder bekommt. Neben ihrer Arbeit als Ärztin ist sie weiterhin politisch tätig. So bleibt es bis 1954. In Frankreichs ältester Kolonie Algerien, mittlerweile offizielles Département, erstarkt die Unabhängigkeitsbewegung. Annette lernt bei Besuchen hautnah die brutalen Ausbeutungsverhältnisse und die prekäre Lage der indigenen Bevölkerungsschichten kennen. Ihrem Gerechtigkeitsempfinden entspricht der Kampf um selbstbestimmtes Leben und er weckt erneut ihren Widerstandswillen. Für die Befreiungsbewegung FLN schmuggelt sie von Algeriern in Frankreich gesammeltes Geld für Waffenkäufe in die Schweiz. 1959 wird sie erwischt, landet im Gefängnis, kann aber entkommen und muss unter Zurücklassung ihrer Kinder aus Frankreich, wo ihr 10 Jahre Zuchthaus drohen, nach Tunesien fliehen. 1962 endet der Algerienkrieg durch einen Waffenstillstand und Annette wird durch Kontakte mit Algeriens erstem Präsidenten Ben Bella Teil der Aufbaukräfte des nun unabhängigen Staates und arbeitet im Gesundheitsministerium. Beileibe nicht alles gefällt ihr. Die ursprünglich eher sozialistisch ausgerichtete FLN wird unter Verteidigungsminister Boumedienne zur Staatsarmee und die einstigen Befreier errichten anstelle demokratischer Strukturen ein Militärregime mit islamischem Einschlag. Annette kämpft, wie schon so oft, innerlich mit sich selbst. Es geht immer um einen Fragenkomplex: Welche Mittel sind beim Kampf um eine Freiheitsutopie gerechtfertigt und wie kann man verhindern, dass sich nach dem Sturz einer unterdrückerischen Gewaltherrschaft neue herrschende Klassen oder Clans an die Macht setzen und der Teufel lediglich von Beelzebub ersetzt wurde. Annette und auch die Autorin liefern dazu keine Antworten, aber die Dringlichkeit, diese Problematik immer wieder aufzugreifen und um Lösungen zu ringen, ohne den Willen und das Recht zum Widerstand gegen alle Arten und Ausprägungen der Ungerechtigkeit in Frage zu stellen, wird dem Leser deutlich bewusst. Am stärksten durch die liebevolle Darstellung der Person Annette selbst. Sie hat sich nie dogmatisch einer Doktrin verschrieben nie einen persönlichen Vorteil verfolgt, sondern handelte aus einem tiefen altruistischen moralischen Antrieb mit dem Blick auf das Ziel einer allseitigen emanzipativen Entwicklung für alle. Für diese, allerdings noch unerfüllte Hoffnung war sie viele Male bereit, das eigene Leben einzusetzen. Einer solchen Frau ein angemessenes Denkmal gesetzt zu haben, ist das eigentliche Verdienst dieses Buches.

Die Form
Die eingangs erwähnte Hochachtung der Autorin für ihre Protagonistin hat sicher ihre Wahl der literarischen Form beeinflusst. Heldenepen, meistens ziemlich gewalttätige Männer behandelnd, sind ziemlich und durchaus zu Recht, aus der Mode geraten. Diesen ein Heldinnenepos über eine Frau, die ganz andere Werte repräsentiert, entgegenzustellen, ist eine ziemlich gute Idee. Dass Anne Webers Text in unregelmäßigen Versen ohne Reim geschrieben ist, die vielleicht in vielen Fällen gar keine seien, kann nur die Erbsenzähler innerhalb der Literaturkritikerkaste interessieren. Jedenfalls wohnt der Sprache von der ersten bis zur letzten Seite ein musikalischer Rhythmus inne, der mit dem Inhalt harmonisch korrespondiert. Dies war auch sinnfällig und wohltuend für alle Gäste der Lesung in der Rainhofscheune erlebbar.
Ein großer Wurf. Unbedingt lesen!

Weitere Infos: www.matthes-seitz-berlin.de