50 Jahre Wyhl und anderswo: Umfangreiche Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart

Im Vorwort für das Begleitbuch zur aktuellen Ausstellung in der Landeshauptstadt weist die Landesministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Petra Olschowski (Bündnis 90/Die Grünen) auf die unveränderte Gefahrenlage, die vielen internationalen Unfälle und Katastrophen bei der Nutzung der Atomenergie sowie die ungeklärte Frage der Atommüll-Entsorgung hin. Sie kritisiert, dass Befürworter der Atomenergie derzeit wieder den Weiterbetrieb und den Bau neuer Atomanlagen zur Absicherung der wirtschaftlichen Prosperität des Landes mit ähnlichen Argumenten wie vor 50 Jahren fordern. Und dann: „Das ambitionierte Ausstellungsprojekt „Atom.Strom.Protest. 50 Jahre Wyhl und anderswo“ der Württembergischen Landesbibliothek und ihrer Partnerinnen und Partner ist auch im Licht dieser aktuellen Entwicklungen und Proteste zu sehen. Es ist daher mehr als die historische Würdigung der Leistung und Wirkmacht der Wyhler Antiatomkraftbewegung, die als Blaupause für die neuen sozialen Bewegungen im Deutschland der 1970er und 1980er Jahre gilt.“
Genau so ist es! Wenn sich die heutige Umweltbewegung in vielen unterschiedlichen Widerstandsformen nicht allein gegen die Atomenergie sondern alle Facetten der Klimakatastrophe wendet, so stand ihre Wiege vor nun 50 Jahren im Dreyeckland am Oberrhein.

Die Ausstellung
Das Herz der Ausstellung bildet die sorgfältige und erfreulich detaillierte Dokumentation von Entstehung, Entwicklung und Vielschichtigkeit der länderübergreifenden Antiatombewegung am Oberrhein. Vom Beginn der Proteste bis zum schließlichen Erfolg durch die Niederlage des Badenwerks mit dem Verzicht auf das AKW Wyhl und das Scheitern der Pläne der Landesregierung unter Hans Filbinger für ein „neues Ruhrgebiet längs des Rheins bis nach Karlsruhe“ ist jede Phase der Auseinandersetzungen sinnfällig nachvollziehbar.
Man findet in zahlreichen Vitrinenreihen Originaldokumente und Gegenstände, die für die damaligen Geschehnisse oder Schauplätze signifikant waren: Von der legendären Erklärung der 21 Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen bis zu einem Stück rasiermesserscharfen Natodrahts, hinter dem sich die Polizeitruppen verschanzten und der bei der zweiten und entscheidenden Platzbesetzung mühsam und unter erheblichen Gefahren überwunden werden musste. Wesentliche Entwicklungspfeiler für die Bewegung, wie der Bau des Freundschaftshauses auf dem besetzten AKW-Bauplatz oder die Gründung und die Programme der selbstverwalteten Volkshochschule Wyhlerwald werden anschaulich. Die speziell wichtige Rolle der Frauen am Kaiserstuhl oder die Bedeutung der mobilisierenden und verbindenden Kraft der Werke der alemannischen, elsässischen und schweizerischen Liedermacher und Dichter wie Walter Mossmann, Roland „Buki“ Burkhart, André Weckmann und Ernst Born finden ihrer Bedeutung gemäße Beachtung. Einzelne Aktivisten, wie Hartmut Gründler oder Meinrad Schwörer werden als Partes pro Toto in Schaukästen vorgestellt. Die Ausstellung verschweigt auch nicht, dass die heute unter den Bezeichnungen Ziviler Ungehorsam oder kalkuliert begrenzte Regelverletzung bekannten gewaltfreien Widerstandsformen in diesem Zeitraum praktiziert und weiter entwickelt wurden. Und ebenfalls nicht, dass trotz erheblicher Differenzen innerhalb der Bewegung diese sich nicht aufspalten ließ, sondern stets in den entscheidenden Momenten solidarisch handelte.
Diese Aufzählung von Einzelthemen und -aspekten speziell zu Wyhl könnte hier noch fortgeführt werden, aber die Ausstellung bietet noch mehr.
Ausführliche Darstellung erfährt der auf Wyhl folgende bundesweite Aufschwung der Bürgerinitiativbewegung, die überall und zu verschiedensten Themen zuhauf gegründet wurden. Dies kommt anschaulich in einer Art Wandzeitung, die alle in den frühen siebziger Jahren bekannten BIs aufreiht, zur Geltung. Ebenso werden die späteren Anti-Atom Auseinandersetzungen in Gorleben, Brokdorf, Grohnde oder Wackersdorf in Erinnerung gerufen, wo es allerdings nicht vollständig gelang, die dort geplanten Atomanlagen zu verhindern. Die Gründe dafür werden in einem analytischen Teil im Begleitbuch und anderen Ausstellungsmaterielien behandelt.
Die vielen beteiligten AusstellungsmacherInnen haben sich erfolgreich bemüht, einen bis heute maßgeblich wirksamen Zeitabschnitt adäquat in Bild, Ton, Film und Schrift gründlich, differenziert und engagiert aufzuarbeiten. Man muss die Analysen der AutorInnen im wissenschaftlichen Teil des Begleitmaterials nicht unbedingt teilen, aber die Ausstellung bietet jede Menge Material, historisch Authentisches zu erfahren, sich damit auseinanderzusetzen und sich auch – warum nicht – zu streiten.
Gerade im Dreyeckland sollte das Interesse an der Ausstellung für die jüngeren Jahrgänge, für Gemeinschaftskunde- und Geschichtslehrer zum Beispiel für eine Klassenfahrt dahin groß sein und eine willkommene Gelegenheit, die dort gemachten Erfahrungen mit den heutigen Verhältnissen zu vergleichen. Wenn etwa aus dem rechten und rechtskonservativen Lager und Teilen der Presse heraus die Klimaschützer der „Letzten Generation“ als kriminell oder gar als Klimaterroristen bezeichnet werden. Demnach wären solche ja auch die vielen Tausend Bauern, Winzer, Frauen, Umweltschützer, Pfarrer, StudentInnen usw. gewesen, die damals zum Beispiel durch die Platzbesetzungen, dem illegalen Sender Radio Verte Fessenheim oder der Mastbesetzung in Heiteren nur ihrer Angst vor einer katastrophalen Zukunft Ausdruck verliehen haben. Sie alle haben bewusst und sehenden Auges strafbare Handlungen begangen.

Atom.Strom.Protest. Württembergische Landesbibliothek, Konrad-Adenauer-Str. 10, Stuttgart. Mo-Fr: 8-12 Uhr, Sa: 10-20 Uhr, So: 11-17 Uhr. Bis 27.08.2023

Bildquellen

  • Die Ausstellung zeigt eine detaillreiche Dokumentation der Antiatomkraftbewegung: Foto: Erich Krieger