Im Interview Wolfram Wette, Historiker, Freier Autor und Bundesverdienstkreuzträger

„Täter, Opfer, Widerstand“

Wolfram Wette (*1940), Historiker und freier Autor, 1971 bis 1995 am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Freiburg tätig, danach am Historischen Seminar der hiesigen Universität als außerplanmäßiger Professor, hat die Historische Friedensforschung mitbegründet und ist Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundesvereinigung „Opfer der NS-Militärjustiz“. Als Vertreter einer kritischen Militärgeschichte hat er sich für die Rehabilitierung von Wehrmachts-Deserteuren eingesetzt und herausragende Erkenntnisse zur NS-Zeit erarbeitet, indem er Täter, Opfer und Persönlichkeiten des Widerstands untersuchte. An Wolfram Wette, den Forscher, Aufklärer und Brückenbauer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, wurde dieses Jahr das Bundesverdienstkreuz verliehen. Unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel hat ihn befragt.

Kultur Joker: Sie haben sich Jahrzehnte für die Rehabilitierung von Wehrmachts-Deserteuren eingesetzt und die Ansicht vertreten, diese verdienten unseren Respekt. Wie kam es schließlich zu einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs, das Deserteure vom Makel des Kriminellen befreite?
Wolfram Wette: Es kam nicht aus heiterem Himmel. Die Grundlagen wurden geschaffen durch historische Forschungen über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht und Forschungen über die NS-Militärjustiz, wobei der Freiburger Militärhistoriker Manfred Messerschmidt eine Pionierrolle spielte. Heftige Debatten in Geschichtswerkstätten, Kirchen und politischen Parteien folgten. 1991 brachte ein Urteil des Bundessozialgerichts den ersten Durchbruch. Es sprach der Witwe eines zum Tode verurteilten und erschossenen Deserteurs eine Rente zu.
Der Bundesgerichtshof nahm sich 1995 die Täterseite vor. Er bezeichnete die Militärrichter der Wehrmacht als „Terrorjustiz“ und „Blutrichter“, die sich eigentlich „wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen“. Der Deutsche Bundestag beschloss folgerichtig im Jahre 2002 mit Mehrheit eine generelle Rehabilitierung der Wehrmacht-Deserteure, und zwar in politischer, rechtlicher und moralischer Hinsicht. Die Rehabilitierungspolitik wurde schließlich 2009 abgeschlossen mit der Aufhebung der Urteile gegen jene Soldaten, die im 2. Weltkrieg wegen Kriegsverrats verurteilt worden waren.
Es ist oft darüber geklagt worden, dass das alles so lange gedauert hat, von 1945 aus gerechnet insgesamt 64 Jahre. Aber es gelang. Wir haben es mit einem fundamentalen politischen Meinungswandel zu tun, der weltweit seinesgleichen sucht. Ein schönes Beispiel für die Lernfähigkeit der deutschen Gesellschaft.

Kultur Joker: Wie ließen sich die Forschungen resümieren, die Sie in den Büchern „Retter in Uniform“, „Zivilcourage“, „Stille Helden“ und „Feldwebel Anton Schmid“ dargelegt haben?
Wolfram Wette: Sie können es dem Untertitel des Buches „Retter in Uniform“ entnehmen. Er lautet „Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht“. Zusammen mit anderen Kolleginnen und Kollegen aus dem Umkreis der Historischen Friedensforschung konnte ich den Nachweis erbringen, dass es selbst in der „totalen Institution“ Wehrmacht nicht unmöglich war, entgegen den Erwartungen der Vorgesetzten und der Befehlslage verfolgten Juden oder Kriegsgefangenen zu helfen und sie, wenn möglich, sogar zu retten. Diese Männer lehnten es auch später ab, als Widerständler heroisiert zu werden. Sie sagten, ihre Handlungsweise sei nichts als eine Selbstverständlichkeit gewesen. Erst die Historiker haben sie zu Widerständlern gemacht, weil sie u. a. gegen den staatlich verordneten Antisemitismus opponierten.
Den Feldwebel Anton Schmid aus Wien, der im litauischen Wilna mehr als 300 verfolgte Juden vor der Ermordung rettete, habe ich als einen „Helden der Humanität“ bezeichnet. Er scheute kein Risiko, um im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen und zu retten. Aus einer christlich motivierten Grundeinstellung heraus traf er für sich die Entscheidung, angesichts der systematischen Judenmorde in Litauen, denen insgesamt mehr als 138.000 Menschen zum Opfer fielen, nicht wegzuschauen, sondern einzugreifen. Durch seinen Willen schuf er sich Spielräume zum widerständigen Handeln. Anton Schmid bezahlte für sein humanes Engagement einen hohen Preis. Er wurde von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt und erschossen.
Andere „Retter in Uniform“ blieben unentdeckt. Es war keineswegs so, dass sie generell ihr Leben riskierten. Hinter der Front gab es Heereswerkstätten, in denen auch Juden und sowjetische Kriegsgefangene arbeiteten. Hier konnte ein Wehrmachtsoldat, der helfen und retten wollte, mit dem wenig angreifbaren Argument operieren, die Zwangsarbeiter seien unentbehrliche, kriegsnotwendige Arbeitskräfte.
Wir konnten mit unseren Forschungen belegen, dass man entgegen anderslautenden Behauptungen durchaus „etwas machen“ konnte. Weil viele Angehörige der Kriegsgeneration das nicht hören wollten, hat es wohl auch so lange gedauert, bis diese „unbesungenen Helden“ in unser kollektives Gedächtnis aufgenommen wurden.
Die vielen Flüchtlingshelfer unserer Tage sehe ich in einer Tradition mit den Helfern und Rettern in der Nazi-Zeit, auch wenn die Umstände natürlich ganz unterschiedlich sind.

Kultur Joker: Nicht zuletzt sind Sie den Spuren von NS-Tätern nachgegangen, insbesondere denen des SS-Standartenführers Karl Jäger. Auf welche Schwierigkeiten sind Sie gestoßen?
Wolfram Wette: Als mir im Jahre 1989 durch einen lokalen Heimatforscher die Information zugespielt wurde, dass ein Waldkircher namens Karl Jäger „irgendetwas“ mit den Judenmorden in Litauen zu tun gehabt habe, hielt ich es für meine Pflicht als Historiker, der Sache nachzugehen und für Aufklärung zu sorgen. Mit den Recherchemöglichkeiten im Militärgeschichtlichen Forschungsamt, das damals noch in Freiburg zuhause war, konnte ich rasch ermitteln, dass dieser Jäger als Chef eines SS-Einsatzkommandos fungierte. Dieses hatte bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1941, als die Wehrmacht auf dem Vormarsch nach Moskau war, in vorauseilendem Gehorsam die systematische Ermordung der litauischen und anderer Juden betrieben.
Der Heimatforscher hatte wohlweislich die Finger von diesem Thema gelassen und sich angenehmeren Dingen gewidmet. Ich bekam alsbald zu spüren, dass Informationen über die Mordtaten des Karl Jäger in Waldkirch nicht etwa mit Interesse aufgenommen wurden, sondern unerwünscht waren und abgewehrt wurden. Ich denke, für Viele stand das Image der Stadt Waldkirch und somit indirekt das jedes Einzelnen in einem höheren Kurs als der Wunsch zu wissen, was mit den Juden in Litauen Schreckliches geschehen war. Jedenfalls bekam ich den Nestbeschmutzer-Mechanismus zu spüren. Auf lokale Hilfe für meine Recherchen musste ich vollständig verzichten.
Wissbegierig waren jedoch die älteren Schülerinnen und Schüler des örtlichen Geschwister-Scholl-Gymnasiums. Seit einigen Jahren engagiert sich die Ideenwerkstadt „Waldkirch in der NS-Zeit“ für die Errichtung eines Mahnmals, das an die in Litauen ermordeten Juden erinnern soll. Es besteht die Hoffnung, dass es in absehbarer Zeit stadtzentrumsnah realisiert werden kann. Vielleicht noch 2016, 75 Jahre nach dem unfassbaren Mordgeschehen in dem kleinen baltischen Land.
Übrigens: Seit ein paar Jahren gibt es in Baden-Württemberg ein historisches Forschungsprojekt „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“, in dem NS-Belastete in verschiedenen Regionen unseres Bundeslandes untersucht werden. Wie die Mitarbeiter dieses Projekts berichten, stoßen sie zwischenzeitlich nicht mehr auf so breite Ablehnung wie in früheren Jahrzehnten, sondern auf zustimmendes Interesse.

Kultur Joker: Anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes hat Innenminister Reinhold Gall die Ereignisse in Ihrem Geburtsjahr in Erinnerung gerufen: die deutsche Wehrmacht hat England, Dänemark und Norwegen angegriffen, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich besetzt; zudem wurde 1940 das Vernichtungslagers Auschwitz eingerichtet. Wodurch ist Ihnen die NS-Geschichte und die nachfolgende Verdrängung bewusst geworden?
Wolfram Wette: Auch ich komme aus einer Familie, in der über den Zweiten Weltkrieg und die Ermordung der europäischen Juden nicht gesprochen wurde. In meiner Bundeswehrzeit hörte ich von ehemaligen Wehrmachtoffizieren, dass die russischen Soldaten heimtückisch und hinterhältig gewesen seien. Aber nichts über den deutschen Vernichtungskrieg. Erst während meines Studiums, in der 1968er Zeit, dämmerte mir allmählich, dass uns so Vieles verschwiegen wurde. Als Historiker im MGFA Freiburg bekam ich dann professionell mit diesen Themen zu tun. Dort gab es jedoch etliche Kollegen, die Wehrmachtoffiziere gewesen waren. So mussten unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse erst einmal einen internen intergenerationellen Hürdenlauf überstehen, bevor sie veröffentlicht werden konnten. Aufklärung als Dauerkonflikt.

Kultur Joker: Wie stellt sich Ihre Tätigkeit im „Arbeitskreis Historische Friedensforschung“ dar, den Sie 1983 mitbegründet haben?
Wolfram Wette: Als der damalige Bundespräsident Gustav W. Heinemann (SPD) im Jahre 1971 die staatliche Förderung der Friedens-und Konfliktforschung anregte und durchsetzte, fühlten sich auch Historiker angesprochen. Wir folgten Heinemanns Ruf, der Frage nachzugehen, wie man die Kriege der Vergangenheit gegebenenfalls hätte verhindern können. Wir beschäftigten uns mit Feindbildern, Rüstungswettläufen, Kriegskultur, mit Problemen der militärischen Machtpolitik, konkret mit den „deutschen Kriegen“ zwischen 1871 und 1945, aber auch mit Völkerrechtsfragen und mit dem zarten Pflänzchen des Pazifismus in Deutschland. Wir haben sozusagen den „anderen Blick“ auf die Geschichte trainiert. Uns interessieren Kriegsursachen, Kriegsvermeidung, Friedensgestaltung in der Vergangenheit.

Kultur Joker: Sie recherchieren, schreiben und reden nicht nur als Wissenschaftler. Sie handeln seit Jahren auch kommunalpolitisch in Waldkirch. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Wolfram Wette: Mein kommunalpolitisches Engagement in Waldkirch – unter anderem war ich 1980-1989 Vorsitzender der SPD-Stadtratsfraktion – möchte ich nicht missen. Zum Einen habe ich mich mit der ganzen Palette des praktischen Lebens einer Kleinstadt vertraut machen und Einiges mit anstoßen können. Zum Anderen habe ich in diesen Jahren gelernt, mich einer verständlichen, nicht-akademischen Sprache zu bedienen. Das ist mir später immer wieder zugutegekommen. Denn ich wollte nicht für den „Elfenbeinturm“ schreiben, sondern von einer größeren Öffentlichkeit gehört werden. Unter anderem haben mir die Wochenzeitung „Die Zeit“ und die hiesige „Badische Zeitung“ dazu immer wieder die Möglichkeit geboten.

Kultur Joker: Die Befreiung von der NS-Herrschaft liegt 70 Jahre zurück, Deutschland hat nach und nach versucht, zu Recht und Menschlichkeit zurück zu kehren.
Wolfram Wette: Seit dem Kriegsende 1945 haben die Deutschen Schritt für Schritt die humane Orientierung wieder gewonnen. Sie haben – in ihrer großen Mehrheit – Demokratie und Frieden gelernt, sowie den menschlichen Umgang mit Flüchtlingen. Ich hoffe, dass dieses Lernen aus der Geschichte auch Belastungen standhält.

Kultur Joker: Wir bedanken uns für das Gespräch.

Neuere Buchpublikationen von Wolfram Wette:
– Ehre, wem Ehre gebührt! Täter, Widerständler und Retter. 1939-1945. Donat Verlag 2015, 2. Aufl.
-(Hg.). Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten Weltkriegs. Herder Verlag 2005, 2. Aufl. 2015
– Feldwebel Anton Schmid. Ein Held der Humanität. S. Fischer Verlag 2013. 2. Aufl.
– Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden. Fischer Taschenbuch 2011. 3. Aufl. 2012
– Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Fischer-Taschenbuch-Verlag 2011
– (Hg.), Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS. Fischer Taschenbuch 2004, 2. Aufl. 2006
– (Hg.), Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Fischer Taschenbuch 2002, 3. Aufl. 2003
– Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. S. Fischer 2002 und 2005 (auch in englischer, französischer, spanischer, tschechischer, polnischer und koreanischer Übersetzung).

Bildquellen

  • Im Interview Wolfram Wette: Foto: Roland Krieg