Wenn die Wände Falten tragen

Die Straßburger Oper beeindruckt mit Ambroise Thomas’ „Hamlet“ in der Filature Mulhouse

Nicolas Cavallier als König Claudius und Marie-Ange Todorovitch als Hamlets Mutter Gertrude; Foto: Alain Kaiser

Totgesagte leben länger. Ambroise Thomas’ fünfaktige, 1868 in Paris uraufgeführte Oper „Hamlet“ erscheint nur äußerst selten auf den Spielplänen. Das ist schade, denkt man nach einem großen Opernabend in der Filature Mulhouse. Eigentlich endet Thomas’ Oper mit dem Jubelchor „Vive Hamlet, vive notre Roi“ (Es lebe Hamlet, unser König). Ein Happy End nach soviel Blutvergießen? Das ist für Regisseur Vincent Boussard undenkbar. Deshalb lässt er in Mulhouse den Abend mit dem Tod Hamlets schließen – und rückt die Oper damit näher an die Vorlage Shakespeares.

Die Produktion war letztes Jahr bereits in Marseille zu sehen. Nun erlebt sie an der Opéra national du Rhin eine glanzvolle Wiederaufnahme (szenische Einrichtung: Anneleen Jacobs).
Boussard erzählt die Geschichte vom unglücklichen Königssohn, der den Tod seines Vaters rächt und am Ende alles verliert, ganz unspektakulär, auch wenn der Geist des Vaters im ersten Akt senkrecht die Wand heruntersteigt (Gilles Vandepuits. Mit mächtigem Bass: Vincent Pavesi). Ansonsten kümmert sich der Regisseur um die Figuren, die im subtil beleuchteten Einheitsraum (Licht: Guido Levi) äußerst spannungsvoll zueinander in Beziehung gesetzt werden. Hier in diesem Palast, dessen hohen Wände Falten tragen (Bühne: Vincent Lemaire), wird nach und nach die schreckliche Vorgeschichte aufgedeckt. Es sind kleine Variationen, die Vincent Lemaire diesem Einheitsraum schenkt. Mal wird das zentrale Bild durch einen großen Spiegel ersetzt, mal wird wie im vierten Akt eine Badewanne zentral postiert, in der Ophelia, begleitet von den seidigen Streichern des Orchestre symphonique de Mulhouse, in einem weißen Mädchenkleid (Kostüme: Katia Duflot) einen ganz ästhetischen Suizid begeht. Im fünften Akt schweben diese schweren Wände in der Luft. Und zeigen, dass nichts mehr ist, wie es einmal war.
Neben der stimmungsvollen Inszenierung besticht der Opernabend durch musikalische Qualität. Das Orchestre symphonique de Mulhouse wächst unter der Leitung von Patrick Fournillier über sich hinaus. Bis auf ganz wenige Aussetzer wie den intonatorisch in Klarinette und Celli völlig verunglückten Beginn des vierten Aktes glänzen die Musikerinnen und Musiker mit exquisiten Soli (Saxofon, Posaune, Oboe, Englischhorn), einem luftigen Streicherklang und großer Flexibilität. Auch das mächtige Pathos der Grand Opéra, das mit strahlenden Blechfanfaren bereits in der Ouvertüre anklingt, ist beim Dirigenten in den besten Händen. Fournillier lässt die Musik atmen – und ist immer ganz nah bei den Solisten. In einem hervorragenden Ensemble gebührt Stéphane Degout als Hamlet die Krone. Sein Bariton ist so farbenreich wie geschmeidig. Und auch, wenn es hochdramatisch wird wie bei der packend inszenierten Aussprache mit der Mutter im dritten Akt (mit sattem Mezzo: Marie-Ange Todorovich), hat Degout genügend Reserven, um die emotionalen Ausbrüche in Klang zu setzen. Die Ophelia von Ana Camelia Stefanescu ist fragil, hell und ganz nach innen gekehrt. Selbst in den waghalsigsten, federleicht genommenen Koloraturen hält die rumänische Sopranistin Abstand von jeder Effekthascherei. Nicolas Cavallier ist ein dominanter, bassmächtiger, ganz und gar triebgesteuerter König Claudius, dessen sexuelle Verfallenheit eindrucksvoll sicht- und hörbar wird. Christophe Berry gibt einen ganz hell timbrierten, schlanken Laertes. Und da auch der Chor der Opéra National du Rhin mit Strahlkraft und großer Homogenität erfreut, bleiben an diesem Abend so gut wie keine Wünsche offen.
Georg Rudiger