Botschaft statt Business

Wolfgang Rüdiger, Künstlerischer Leiter des Freiburger Ensemble Aventure

Es hat Komponisten wiederentdeckt, die im Nationalsozialismus verfemt waren. Es sucht den Kontakt zur außereuropäischen Musik. Es möchte aufrütteln und emotional bewegen, möchte Stachel sein und auf keinen Fall langweilen. Das Freiburger Ensemble Aventure feiert seinen 25. Geburtstag. Wolfgang Rüdiger war als Fagottist und Mitbegründer des Ensembles von Anfang an dabei. Georg Rudiger spracht mit dem künstlerischen Leiter, der in Düsseldorf auch eine Professur für Musikpädagogik inne hat, über Geschenke und Gefühle, über das Ende einer Epoche, über die Kunst der Vermittlung – und nicht zuletzt darüber, wie man es 25 Jahre lang miteinander aushält.

Kultur Joker: Die Basel Sinfonietta hat gerade zum 30. Geburtstag von ihrem Publikum eine Kaffeemaschine und einige Notenständer geschenkt bekommen, für das 25-jährige Jubiläum des Freiburger ensemble recherche im letzten Jahr haben viele Komponisten Liebeslieder geschrieben. Was wurde dem Ensemble Aventure zum 25. Geburtstag geschenkt?

Wolfgang Rüdiger:
Wir bekommen stets geschenkt, dass viele Menschen zu unseren Konzerten kommen und uns mit ihrer emotionalen Resonanz bereichern. Das letzte Konzert zum Beispiel, bei denen wir unter dem Motto „Anti-Luxus“ Werke vorstellten, in denen es um das Überleben geht, war von einer solchen emotionalen Wucht, dass viele Zuhörer mit Tränen in den Augen nach Hause gegangen sind und gefragt haben: „Geht das jetzt so weiter?“. Und ich habe ihnen versprochen: „Ja, bestimmt für die nächsten 25 Jahre.“ (lacht).

Kultur Joker: War das alles an Geschenken?

Rüdiger:
Nein, natürlich nicht. Es gibt zwei wesentliche Geschenke, die uns in dieser Spielzeit überreicht wurden. Zum einen ein toller Preis der Ernst von Siemens Musikstiftung für unser Projekt „Doppelte Identitäten – Grenzgänger der Disziplinen“. Wir werden unter diesem Motto vier Kompositionsaufträge verteilen und das Ergebnis dann in der Saison 2012/13 in einem ganz neuen Konzertformat vorstellen. Und das zweite ist eine vom Goetheinstitut unterstützte Lateinamerikareise, die uns im August erneut für zwei Wochen nach Uruguay und Argentinien zu vier Konzerten und Workshops führen wird. Außerdem bekommen wir gerade verstärkt Einladungen von wichtigen Veranstaltern und bedeutenden Festivals – das freut uns natürlich auch.

Kultur Joker:
Wir haben bereits vor fünf Jahren zum 20-jährigen Jubiläum ein Titelinterview für den Kultur Joker geführt. Was hat sich seither beim Ensemble Aventure verändert?

Rüdiger: Es ist mehr geworden. Wir machen noch mehr Gastspielreisen ins Ausland. Wir haben neue, junge Leute eingebunden, die mit neuen Ideen die Zukunft des Ensembles garantieren.

Kultur Joker: Zum Beispiel?

Rüdiger: Akiko Okabe, unsere Pianistin mit vielen Kontakten zu japanischen Künstlern, hat zum Beispiel das Zukunftsprojekt angeregt, jüngere Komponistinnen und Komponisten weltweit systematisch zu entdecken und zu fördern. Diese Talentsuche war zwar immer schon wichtiger Teil unseres künstlerischen Selbstverständnisses, aber das wird sich in den nächsten Jahren noch verstärken. Gewandelt hat sich auch sicherlich die Einstellung zu dem, was man so locker und flockig „Neue Musik“ nennt, die meiner Meinung an ihre Grenze, in ihre Abenddämmerung gekommen ist. Neue Musik, die seit rund 100 Jahren unter dieser Bezeichnung gefasst wird, ist nach meinem Dafürhalten als Epoche abgeschlossen. Wir befinden uns in einer restaurativen Übergangszeit, in der ein Innehalten festzustellen ist. Es gilt deshalb mehr denn je, eine neue Positionsbestimmung vorzunehmen.

Kultur Joker: Wie könnte die aussehen?

Rüdiger: Wir möchten gute Werke des 20. Jahrhunderts häufig spielen, neue Verbindungen zwischen den Künsten schaffen und das, was im Laufe der Jahre am Wegrand liegen geblieben ist, gezielt ins Bewusstsein holen. Denken wir hier zum Beispiel an Claude Vivier, den großen kanadischen Komponisten. Oder auch an den Russen polnischer Abstammung Mieczyslaw Weinberg, dessen erschütternde Auschwitz-Oper „Die Passagierin“ im letzten Jahr bei den Bregenzer Festspielen mit großem Erfolg uraufgeführt wurde. Seine beeindruckende Kantate „Drei Palmen“ op. 120 haben wir gerade beim „Antiluxus“-Konzert aufgeführt. Anton Webern, um in die klassische Moderne zu verweisen, wird so gut wie nie gespielt. Da gibt es viel zu tun.

Kultur Joker: Woran machen Sie die These von der restaurativen Übergangszeit überhaupt fest?

Rüdiger: Ich mache das fest an Komponistinnen und Komponisten, die zurzeit hoch im Kurs stehen und viel gespielt werden – große Könner und erstklassiger Musiker ohne Zweifel, die alle Stile handwerklich in sich vereinen, ohne jedoch die Emphase des Neuen, die das 20. Jahrhundert prägte, in sich zu tragen. Auch die Programme, die allerorten gespielt werden, tragen einen eher dokumentarischen Charakter – es fehlt das pionierhafte Agieren, das beispielsweise die 1980er Jahre kennzeichnete, oder der Skandal früherer Zeiten. Ich beobachte auch die Entgrenzung und neue Verbindung der Künste – hier sehe ich durchaus auch eine Chance für Neues. Phänomene, die man mit dem Begriff „Klangskulptur“ oder „Musik als Plastik“ bezeichnen kann. Die echten Neuerer wie John Cage, Morton Feldman, Iannis Xenakis oder Karlheinz Stockhausen sind gestorben. Und haben keine Nachfolger gefunden.

Kultur Joker: Die Gründung des Ensemble Aventure im Jahr 1986 erfolgte im Umfeld der Freiburger Musikhochschule, aber in bewusster Abgrenzung zum dortigen Institut für Neue Musik.

Rüdiger: Wir fanden als junge Wilde die damalige Arbeitsweise und Programmatik nicht so spannend und wollten etwas Eigenes machen. Wir haben versucht, stimmige Konzeptionen zu erfinden, in denen wir Werke der klassischen Moderne von Arnold Schönberg und Edgard Varèse mit ganz neuen Stücken zusammenbrachten. Oder auch den Blick gerichtet auf Musik aus anderen Kulturen – um sie mit europäischen Kompositionen zu verbinden, was diese wiederum ganz anders beleuchtete, Wir wollten uns auch abgrenzen von dominanten Lehrerpersönlichkeiten wie Klaus Huber, der damals Institutsleiter war. Zudem war das auch der Zeitgeist der damaligen Ensemblebewegung. Man wollte einfach etwas Eigenes, Autonomes, qualitativ Neues machen.

Kultur Joker: Im Gegensatz zum ensemble recherche, das ja ein Jahr früher gegründet wurde, ist die Struktur beim Ensemble Aventure wesentlich offener. Die Musiker können nicht alleine vom Ensemble leben. War das von vornherein so geplant? Und ist das ein Vorteil oder ein Nachteil?

Rüdiger:
Ja, das war so geplant. Wir wollten nie allein von der Neuen Musik leben – das verengt die Perspektive. Botschaft statt Business, das war immer unser Motto. Die Erfahrungen der Mitglieder auf anderen, verwandten Gebieten helfen unserer Ensemblearbeit. Und umgekehrt tragen wir aus dem Nukleus des Ensemble Aventure Botschaften nach außen, in die Gesellschaft. Wir sind freier in der Programmwahl und können auch Werke von Komponistinnen und Komponisten spielen, die noch unbekannt und nicht so gefragt sind. Wir haben es zum Beispiel einmal abgelehnt, ein Festival mit Werken von Wolfgang Rihm zu bestreiten. Das verbaute uns natürlich auch einige Wege. Inzwischen sind wir ästhetisch viel offener geworden, vieles von Rihm beispielsweise gefällt mir heute. Die Zeit der Ideologien ist ja auch vorbei.

Kultur Joker:
Von der ursprünglichen Besetzung des Ensemble Aventure sind heute immer noch sieben Musikerinnen und Musiker dabei. Was ist das Geheimnis für solch eine lange Künstlerehe?

Rüdiger: Künstlerische Qualität, gepaart mit Offenheit und Ehrlichkeit im Umgang miteinander. Dieser Ensemblegeist, diese Kritikfähigkeit ist entscheidend. Wir haben in gewisser Weise auch davon profitiert, dass wir kein professionelles Management haben und sich so jeder einzelne nach seinen Fähigkeiten einbringen muss, auch wenn das manchmal an die Grenzen der Belastbarkeit geht.

Kultur Joker: Seit einigen Jahren wird im Musikleben Vermittlung groß geschrieben. Jedes Orchester hat seinen Konzertpädagogen, jedes Ensemble sein Schulprojekt. Das Ensemble Aventure macht bereits seit den 1990er-Jahren Vermittlungsprojekte. Was ist das Erfolgsrezept für gelungene Vermittlung?

Rüdiger:
Ein gutes Konzertprogramm und gute Interpretationen. Das vermittelt sich von selbst. Gute Vermittlung muss aus dem Wesen der Musik gedacht werden. Das ist kein lineares Geschehen, keine Vermittlung von etwas, sondern eine Vermittlung zwischen etwas, was ursprünglich zusammen gehört: Musik in ihrer geistgeprägten Sinnlichkeit und die körperlich-geistige Natur des Menschen. Schüler müssen nur aktiviert werden, sich musikalisch zu entfalten, mit allem, was ihnen einfällt. Der Mensch singt, seufzt und schreit, lange bevor er spricht. Von Geburt an gehören Musik, Hören, Rhythmus, Bewegung zum Menschen substantiell dazu. Das müssen wir nur entfalten.

Kultur Joker: Das von der Bundeskulturstiftung geförderte Freiburger Mehrklang-Festival geht in diesem Jahr zu Ende. Ziel des sogenannten Netzwerks Neue Musik war es unter anderem, dass ganz neue Publikumsschichten mit zeitgenössischer Musik in Berührung gekommen. Wurde in Freiburg das Ziel erreicht?

Rüdiger:
Partiell haben wir das schon erreicht. Das ist natürlich ein langfristiger Prozess, der viel Geduld erfordert.

Kultur Joker
: Bei der Pressekonferenz vor vier Jahren anlässlich der Gründung des Freiburger Mehrklang-Festivals wurde es als „Wunder von Freiburg“ bezeichnet, dass sich die vielen in Konkurrenz stehenden Neue-Musik-Ensembles in Freiburg nun an einen Tisch setzen. Ich hatte in den letzten Jahren eher den Eindruck, dass jeder weiterhin sein eigenes Süppchen kocht – und am Ende der Stempel „Freiburger Mehrklang“ aufgedrückt wird.

Rüdiger:
Wir sind jedenfalls ins Gespräch gekommen. Und die Kommunikation zwischen den Beteiligten hat sich erheblich verbessert. Das ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich unter einem Dach ganz verschiedene, durchaus individuelle Projekte versammeln können. Und die „Gesellschaft für Neue Musik. Mehrklang Freiburg“ wird ja auch nach 2011 Bestand haben und, unterstützt vom Kulturamt der Stadt Freiburg, hier im Dreiländereck eine Zusammenarbeit über die Grenzen anstreben.

Kultur Joker:
Diese Individualität der Ensembles konnte dazu führen, dass man gerade das Gegenteil von dem machte, was konzeptionell beschlossen war. Zum Thema „Luxus“ veranstalteten Sie mit dem Ensemble Aventure ja das bereits erwähnte „Anti-Luxus“-Konzert.

Rüdiger:
Ich konnte mit dem Begriff „Luxus“ in Bezug auf Neue Musik nichts anfangen. Neue Musik ist für mich nicht nur schöner Schein, sondern Lebensnotwendigkeit, nicht l’art pour l’art, sondern etwas Existentielles. Gerade Konzerte mit sogenannter Neuer Musik sollten Erlebnis- und Erfahrungsräume schaffen, die Menschen im Innersten ihrer Existenz berühren, bewegen, ergreifen. Deshalb haben wir unser Konzertprogramm ganz bewusst in Abgrenzung zu diesem Motto zusammengestellt. Und das ist voll aufgegangen.

Kultur Joker: Anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums gibt das Ensemble Aventure am 8. und 9. Juli 2011 insgesamt drei Konzerte in der Elisabeth-Schneider-Stiftung. Was gibt es da zu hören?

Rüdiger: Ingesamt möchten wir bei diesen Konzerten Werke und Komponisten zeigen, die für uns besonders wichtig waren und sind. Im „Unter Strom“ genannten ersten Konzert am 8. Juli haben wir intensive, spannungsgeladene Kompositionen versammelt wie „LIVE“ von Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring. Die 18 Songs sind nach Gedichten entstanden, die Anne Sexton vor ihrem Selbstmord geschrieben hat. Wir haben eine Uraufführung des jungen polnischen Komponisten Jakub Sarwas dabei. Terry Riley und John Cage sind natürlich Klassiker der Neuen Musik. Und Mathias Spahlingers „Vier Stücke“ haben wir bereits 1987, also ein Jahr nach unserer Gründung, gespielt. Es ist eine Reminiszenz an unsere frühen Jahre und zugleich ein großartiges Stück neuer Musik.

Kultur Joker: Von „Surprise“ am 9. Juli um 18 Uhr soll man sich dann laut Konzertankündigung überraschen lassen.

Rüdiger:
Nicht nur die Zuhörer, sondern auch wir werden überrascht sein. Jeder von uns wird Solostücke oder kleinere Ensemblestücke spielen – und keiner weiß etwas von den Plänen des anderen. Wir werden das gesamte Areal der Elisabeth-Schneider-Stiftung bespielen, also auch den Garten und die Ausstellungsräume. Der Staffelstab wird von Musiker zu Musiker weitergegeben – und die Zuhörer wandern dorthin, wo die Musik klingen wird. Beim abendlichen Festkonzert spielen wir dann mit Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücken op. 16 von 1909 einen Klassiker der Gründungszeit Neuer Musik. Und haben neben Aventure-Werken der jüngeren Komponisten Michael Reudenbach und Thomas Bruttger mit Iannis Xenakis noch eine weitere Neue-Musik-Koryphäe dabei.

Kultur Joker: Von mir gibt es zum 25-jährigen Jubiläum auch noch ein Geschenk. Und zwar die Frage: Warum ist Neue Musik notwendig?

Rüdiger: Weil sie Ausdruck unserer Welt ist und zugleich über das Bestehende hinausweist, eine Schönheit und Utopie eigener Art. Und weil sie jeder Mensch in sich trägt. Indem er ihr lauscht, weckt er sein Hören, Fühlen, Denken, verändert sich mit ihr und entdeckt sich neu. Und: Weil sie das Leben bewusst macht und erhellt.

Kultur Joker: Vielen Dank für das Gespräch – und auf weitere 25 Jahre!

Bildquellen

  • IMG_20100515_105710: Ensemble Aventure