Verteidigung und Befreiung der weiblichen Lust

Wir sprechen häufiger über weibliche Lust. Ein Konzept, das lange Zeit vernachlässigt wurde oder nur in verzerrter Form erschien. Dabei geht es um Individualität, den Menschen an sich. Aktuelle Bucherscheinungen und ein Freiburger Filmkollektiv widmen sich der weiblichen Lust – und zeigen vor allem den Menschen mit seinen Wünschen und Ängsten. Ein Raum für neue Erzählungen.
Vorab aber noch eine Warnung: Dieser Artikel behandelt Werke, die sich durch explizite Darstellungen und Sprache auszeichnen. Soweit möglich, wird auf eine gemeinverträgliche Darstellung geachtet. Zur Charakterisierung der Werke blieb es jedoch nötig, einige der expliziten Begrifflichkeiten beizubehalten. Auf pornografische Bilder wird verzichtet.
Lust. Wem gehört sie? Wer lebt sie auf welche Weise aus? Auch einige Jahre nach #MeToo bleibt es wichtig, sich gegen die Lust anderer zu verteidigen. Betroffenen von Sexismus geht es hier um ein klares „Nein“. „Nein“ zu Anmachsprüchen, körperlichen Übergriffen, aber auch Benachteiligungen im gesellschaftlichen Leben. Aber was ist mit der eigenen Lust? Wo hat die ihren Platz? Eines der immer noch vorherrschenden Rollenklischees Frauen gegenüber ist das der Passivität, des bloßen Erduldens. Feminismus bedeutet an dieser Stelle, nicht nur Abstand zu gewinnen, sondern so auch aktiv neue Freiräume, Handlungsräume zu erschließen. Räume für Bedürfnisse wie das der weiblichen Lust.
Doch wie nähert man sich dem an? Überhaupt „man“ – als Cis-Mann (Mann, der sich mit seinem biologischen Geschlecht identifiziert) bin ich als Autor dieses Artikels sicher keine Gewährsperson für „weibliche Lust“. Daher sollen in dieser Auseinandersetzung auch andere, weibliche Stimmen sprechen. Zwei Bücher von Autorinnen stehen im Mittelpunkt. Anna Giens und Marlene Starks Roman M und Corinna T. Sievers Roman Vor der Flut. Dazu ein Interview mit Kira vom Freiburger Filmkollektiv „feuer.zeug“, das feministische Pornos produziert. Ein Blick auf die zeitgenössische Kunst, der verschiedene Realitätsentwürfe von Künstlerinnen präsentiert. Immer geht es dabei um weibliche Lust und immer gegen jenes Klischee von Weiblichkeit und Passivität.
Auch „Männlichkeit“ gehört zu dieser Auseinandersetzung. Zunächst einmal über meine Perspektive, die die eines Mannes bleibt, dann aber auch über die Verhandlung von Männlichkeit in den vorliegenden Romanen und in der feministischen Pornografie. Nicht zuletzt bleibt die Trennung zwischen „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“, ebenso wie beide Kategorien, ein Konstrukt, das gerade in den Romanen mal spielerisch, mal offen aggressiv angegangen wird. Dabei bleibt die Frage, ob Männlichkeit überhaupt noch Gegenpol bleiben muss, nicht obsolet wird. Wobei an Letzterem gezweifelt werden muss. Schließlich stehen all diese künstlerischen Ausdrucksformen einer Gesellschaft gegenüber, die Männlichkeit noch immer als wesentliches Gut begreift, ob anhand „kerniger“ Werbespots mit grillenden Gartenhelden, Pornos voller omnipotenter Sexmaschinen oder anhand der Figur des genießenden Voyeurs.

Ein eigener Pool sexueller Lust

M, die auf ganzer Länge des gleichnamigen Romans anonym bleibt, steht einer solchen medial überformten Gesellschaft gegenüber. Das Kunstleben Berlins ist eben nicht das, was sich die junge Kunststudentin erträumt hat. Statt Verwirklichung des eigenen Selbst sind Identitätsschablonen zu erfüllen, denn die bedeuten Geld. Die Selbstentfremdung reicht dabei bis ins Privatleben. Auch Körperlichkeit und Sexualität sind Konzepten untergeordnet. „Die beiden sind ekstatisch, weil sie sich das so vorgestellt haben. Ich nicht. Ich will die Situation einfach mitnehmen.“ M versucht sich als Systemsprengerin. Sie setzt der Normierung ein eigenes Programm entgegen. Eine Neuprogrammierung weiblicher Lust. „Ich bin fast mechanisch. Ein Programm, das sich selbst beibringt, soziale Kompatibilität in Datenpools sexueller Erfahrung einzuspeisen, aus denen neues Verhalten konfiguriert wird, eine Ressource für die Optimierung künstlicher Intelligenz.“ Einen autonomen Pool sexueller Lust verspricht das, eine harsche Abgrenzung zum bestehenden System.
In M ist das auch das System reicher Männer, die kunstpolitisch Gelder verteilen, Macht ausüben, eigentlich aber bloß auf eine unerwartete Unterwerfung warten. Männer erscheinen in M, anders als die Frauen, mit vollem Namen, bleiben ohne die schützende Anonymität, bleiben Spielball für Ms sexuelle Experimente. Passiv ist M nicht. Richard, einen Galeristen und devoten Mann, penetriert M mit einem Umschnalldildo, der sogar künstliches Sperma absondert. Eine fetischhafte Machtfantasie, die ihren grotesken, entfremdenden Charakter nicht verbirgt. Als M einen Orgasmus erlebt, die Ladung des Dildos gleichzeitig abfeuern möchte, funktioniert das Gerät besser als erwartet. Der „weiße Eiter“ schäumt ohne Ende: „eine totale Dysfunktion“. Das mechanische Übertreten bestehender Grenzen führt M in eine neue Entfremdung. In dem Moment, da sich die weibliche Lust neue Bereiche schafft, lässt sie die Weiblichkeit hinter sich, ein überfordernder Prozess. Was kommt danach? M spielt mit der Unwägbarkeit. „Es fühlt sich ein bisschen so an, als trüge man eine Prothese für ein Körperteil, das einem nie amputiert worden ist. Ich spüre nichts. Außer vielleicht Phantomschmerz.“

Die eigene Leerstelle im System

Dass weibliche Lust nichts Definitives, Objektives ist, das von verschiedenen Personen gleich zu erreichen ist, wird in M deutlich. Das Konzept bleibt natürlich abhängig vom Individuum und dessen Gefühlen. M ist eine Person, die sich vor allem in Mängeln und Unvollkommenheit erlebt, in Abstand zu einem Zustand, den sie selbst nicht beschreiben kann. Im Laufe der Handlung, die sie zu verschiedenen Orten des Kulturlebens und zu verschiedenen Sexualpartner*innen führt, beschreibt sie diesen Mangel, die Leerstelle, die sie auch mit ihrer Sexualprogrammierung nicht auszufüllen mag. Stattdessen schafft sich M als autonomes, stets aktualisiertes System immer wieder neue, eigene Erzählungen. „Nicht trans und nicht cis. Nicht Junge und nicht Mädchen. […] Ich war immer dazwischen.“ Die Befreiung bedeutet auch Isolation, ein Handeln, das in eigenen Bereichen bleibt, ein selbstbefriedigendes Miteinander. Nur konsequent, dass M eine Prostitutionsagentur gründet. Statt einer fremden Prothese hat sie einen fremden Penis, „den ich losschicken kann, um für mich zu ficken. Wie ich will und was ich will.“
Man kann überlegen, ob M als eine Dystopie weiblicher Lust innerhalb einer sexistischen Gesellschaft zu lesen ist. Aber natürlich erschöpft sich das Buch nicht in einer rein weiblichen Perspektive, stellt es diese doch in Frage. Wird Sex nicht für all jene zur Selbstbefriedigung, die ihre Sexualität radikal individuell leben wollen? Hat die Moderne nicht die Erkenntnis gebracht, dass Ich und Umwelt nicht miteinander kompatibel sind? Nicht einmal in der Liebe? Zumindest dafür hat unsere Welt eine postmoderne Lösung: Wir finden unsere Bedürfnisse vorgefertigt in den Medien und können sie vor Ort auch gleich erfüllen. Wer braucht denn individuelle Lusterfüllung? „Weil alles schon da ist, müssen wir uns nicht mehr anstrengen und eignen uns wohl oder übel die Sprache an, die es schon gibt, während wir uns durch die Kategorien der gemütlichen Sexbubble klicken, die der Markt für uns vorbereitet hat.“

Individuell und gemeinsam

Die Freiburger Porno-Produktionsfirma „feuer.zeug“ stellt sich etablierten Kategorien entgegen und leistet feministische Aufklärungsarbeit. „Pornos können Druck ausüben, zum Beispiel durch Körperbilder oder den Wunsch, einem bestimmten Bild zu entsprechen.“ Kira, eine der Gründer*innen des Kollektivs, befürwortet einen individualistischen Ansatz. „Pornos können jedoch genauso gut empowern und bestärken, zum Beispiel durch die Repräsentation sexueller und körperlicher Vielfalt.“ Ein Zusammenkommen verschiedener Geschlechtsidentitäten und sexueller Vorlieben statt isolierender Sexbubbles. Sexuelle Autonomie, Selbstbestimmung und Gemeinsamkeit.
Im Interview mit Kira habe ich auch über weibliche Lust gesprochen. Während weibliche Lust im gesellschaftlichen Diskurs unterrepräsentiert oder schlicht nicht thematisiert ist, erscheint sie in der Pornografie in krasser Verzerrung. Weibliche Lust ist dort omnipräsent. Frauen haben immer Lust. Ob dies der Wirklichkeit entspricht, steht selten zur Diskussion, gleichzeitig ist der Einfluss von Pornografie unleugbar. „Klar ist, dass eine Gesellschaft und jede*r einzelne von uns durch die Medien beeinflusst wird, die er oder sie konsumiert. Und da ist der Porno natürlich keine Ausnahme – nur dass er viel weniger stark kontrolliert, reglementiert und auch diskutiert wird als andere Medien.“ Wie M lädt auch die Arbeit von „feuer.zeug“ zur Diskussion typischer Lustdarstellungen ein. Beide bieten Alternativmodelle zum vorherrschenden Bild der passiven oder pornografisch lüsternen Frau. Der Unterschied liegt hier im Aktivismus. Konstatiert M vor allem einen Mangel im Verhandeln der eigenen Lust, suchen die Pornos von „feuer.zeug“ bereits einen Raum sexueller Erfüllung und Rücksichtnahme. Weibliche Lust erhält hier, „den Raum, der ihr zusteht“, wie Kira bestätigt.
Zum Kollektivgedanken gehört auch eine offene Arbeitsatmosphäre. „feuer.zeug“ heißt Interessierte stets willkommen, fordert sie auf, eigene Ideen und Fantasien zu visualisieren. Dass dabei auch Gender-Kategorien überkommen werden, bietet eine zusätzliche Möglichkeit zur Selbsterfüllung jenseits bestehender Kategorien. „Wir bei ‚feuer.zeug‘ sprechen zum Beispiel oft von Sexualitäten im Plural anstatt im Singular, um die existierende Vielfalt miteinzuschließen.“ Im Idealfall bedeutet Vielfalt also die Integration vieler Individuen statt einer Massenkommunikation, bei der den Individuen nur Schablonen zur vermeintlichen Selbstverwirklichung bleiben.

Aggressive Selbstermächtigung

Sich in einer Gesellschaft dominanter Schablonen und Rollenklischees eine eigene Sexualität zu suchen, bleibt in M und in Corinna T. Sievers Roman Vor der Flut eine Sache der Abgrenzung und aggressiven Ermächtigung. „Aber es geht um mehr, um das Ringen der Geschlechter miteinander, um den Triumph des einen und den Untergang des anderen.“ Protagonistin in Corinna T. Sievers Roman ist die Zahnärztin Judith, nicht ganz zufällig namentlich mit jener biblischen Judith verwandt, die Holofernes enthauptete, „nachdem er sie gefickt hatte.“ Auch hier sind es harte Worte, die Sex und Lust beschreiben. Auch hier liegen das Automatisierte, Mechanische und Anonyme nahe, das wir bereits in M erleben konnten. Judith lebt, anders als M, aber nicht inmitten einer technisierten Gesellschaft, sondern auf einer norddeutschen Insel, die jenseits der Feriensaison nur wenige Menschen trägt. Ihre Ehe zu einem Psychoanalytiker ist lust- und leidenschaftslos, dabei ist sie selbst Nymphomanin. Es folgt ein Angriff ohne Rückzugsmöglichkeiten. Zum einen hat Judith keine behütende Heimat – ihr Mann analysiert sie fortwährend – zum anderen versucht sie, immer mehr in einen gefährlichen Grenzzustand zu gelangen, den ihr nur die Lust ermöglicht.
Für Judith steht die Verschmelzung mit dem Gegenüber nicht im Mittelpunkt ihrer Lust. Vielmehr dessen Erniedrigung, die sie selbst noch höher hebt. „Doch muss ich das männliche Exemplar, um es zu ficken, zuerst demütigen. Erst dann wird es wild. Wild will ich es und ungebändigt.“ Hier finden wir es schließlich, das Bild der ständig lüsternen Frau. Jedoch keinesfalls im Rahmen eines Pornoszenarios, in dem sich der omnipotente Mann bloß zu bedienen braucht. Judiths Vorliebe ist mitnichten sadomasochistisch, also auf eine gemeinsame, ausgeglichene Sexualität gerichtet. Judith will sich bedienen. Das Exemplar Mann wird zum Steigbügelhalter für eine höhere Ekstase, die in ihrer Wildheit dem Meer gleicht, das die Nordseeinsel umgibt.
Sentimental-romantisch ist dieser Vergleich nur auf den ersten Blick. Denn so haltlos wie Judith ist, steht am Ende des Sex der kleine Tod, der Tod der Frau im Orgasmus: „Eine Welle nach der anderen reißt uns in Stücke, es ist der süßeste Tod.“ Die Auflösung im weiblichen Orgasmus führt jenseits der Geschlechter und bietet für Judith eine endgültige, beinahe biblische Erlösung jenseits des gegenseitigen Erkennens in der geschlechtlichen Sünde. „Die Nymphomanin ist nicht mehr sie selbst, mehr noch, sie existiert nicht mehr. Bar jeder Verantwortung, nur noch Fleisch. Es ist der unschuldigste Akt.“ Statt gemeinsamer Verschmelzung sucht Judith Selbstauflösung.

Weibliche Macht und Ohnmacht

Lust bleibt auch für Judith Selbstbefriedigung. Anders als für M ist Sexualität für sie aber klar als „weiblich“ markiert. Nur über das Weibliche erhält sie ihre befreiende Macht. Die Männer sind wie auch in M narzisstische, trottelige Erscheinungen, die für eine Selbstbefriedigung nur genutzt werden müssen. Eine Ausnahme bildet Judiths Ehemann Hovard. Er schafft zusammen mit der Insel einen unerwünschten Ankerpunkt, wie ihn M inmitten der stets wechselnden Orte und Personen nicht hat. Judith verachtet ihn und bleibt doch bei ihm, lässt sich immer wieder seinen trocknen psychoanalytischen Untersuchungen unterziehen. Als Nymphomanin bleibt sie sein ideales Studienobjekt. Hovard diagnostiziert große Verletzlichkeit, die mit starker Sexualität ausgeglichen werden muss. Und tatsächlich bedeutet eine verletzende Eheepisode den Beginn der großen Untreue Judiths. Eines Tages verweigert Hovard den weiteren Geschlechtsverkehr und wirft Judith aus allen Sicherheiten. Plötzlich bleibt sie als lustgetriebene Person allein in ihrer Beziehung, ihr Mann sieht Sexualität nurmehr als Objekt.
Judiths kühle Analysen der Umgebung, ihre harte Umsetzung der Lust, stehen hinter der emotionslosen Betrachtung Hovards noch zurück. Er bleibt die einzige Person, die Judith bei ihrer Selbstbefriedigung beobachtet, während ihre männlichen Gegenüber noch glauben mögen, dass es dabei um Liebe geht. Die „Dekonstruktion des Mannes“ aus Perspektive Judiths ist für Hovard nur Selbstdekonstruktion. Als Psychoanalytiker meint er die leidenschaftliche Realität Judiths als bloße Projektion zu erkennen. Der freischwebenden, haltlosen Perspektive von M steht in Vor der Flut das ewige, verhasste Korrektiv durch den Ehemann gegenüber. Judiths Selbstbeschreibungen und Selbstinszenierungen bleiben in Relation, können nie vollkommene, weibliche Realität werden. Und doch liegt hier auch die Parallele zu M. Die absolute, selbstauflösende Lust kann es nicht oder nur für den Moment geben. Die weibliche Lust bleibt individuell und relativierbar – ob durch die Typisierungen der Pornografie mit ihrem Spermaüberschuss oder durch die Analysen der männlichen Wissenschaft, die weibliche Lust schon früh als „Hysterie“ zu diskreditieren wusste.
„feuer.zeug“ verweisen auf die Handlungsmöglichkeiten, auch innerhalb einer solchen Gesellschaft, die Individuen in ihrer Lust allein lässt. Aber geht das ohne Kampf? Und wer schafft es, diesen Kampf zu führen und gleichzeitig seine Verletzlichkeit zu zeigen, die doch zu jeder Offenbarung der eigenen Lust gehört? Weder M noch Judith sind unbesiegbare autonome Systeme, aber sie haben zur heutigen Zeit ihre Vorbilder. Die #MeToo-Debatte hat gezeigt, wie ein Verteidigungskampf funktioniert, der die Aggressoren wütend benennt und gleichzeitig Sicherheitsräume jenseits übergriffiger „Sexbubbles“ schafft.
Lustvoll feministische Formate wie „feuer.zeug“ arbeiten in diesen Safe Spaces, deren Regeln sie kennen, während Romane wie M und Vor der Flut die Unwägbarkeiten der Lust thematisieren. Ungeachtet der Bedingungen unserer Gesellschaft werden wir die Verletzlichkeit niemals los, und das ist gut, solange wir Raum bekommen, mit ihr arbeiten zu können. Dieser Artikel endet daher allgemein und geschlechterübergreifend mit einem Plädoyer für die Kunst, die solche Räume schafft, Perspektiven ermöglicht und infrage stellt, vor allem infrage stellt.

Anna Gien/Marlene Stark, „M“, Matthes & Seitz 2019.
Corinna T. Sievers, „Vor der Flut“, Frankfurter Verlagsanstalt 2019.
Website von „feuer.zeug“: www.feuerzeugfilms.de