Unterschichtsdrama im Abendkleid: Musikalisch top, szenisch strange: Alban Bergs „Wozzeck“ am Freiburger Theater

Melodische Linien überall. Die Streicher zaubern einen weichen, schimmernden Klang und veredeln die Übergänge. Auch im Blech und in den Holzbläsern ist alles fein modelliert. Eine Belcanto-Oper hat sich der neue Freiburger Generalmusikdirektor für seine erste Premiere allerdings nicht gewünscht, sondern mit Alban Bergs 1925 uraufgeführtem „Wozzeck“ die erste abendfüllende atonale Oper der Musikgeschichte. Selbst die klanglichen Zuspitzungen des Philharmonischen Orchesters Freiburg bleiben genau ausbalanciert – dieser „Wozzeck“ wird zum echten Hörerlebnis. Das Orchester ist auch optisch im Mittelpunkt, sitzt es doch auf einer großen Podesterie mitten auf der Drehbühne unter einem Riesenballon und wird immer wieder in Bewegung gesetzt. Wann und warum sich das Orchester in Marco Štormans Inszenierung dreht, bleibt allerdings unklar, wie leider so manches an diesem Abend.
Zum einen verhindert die Positionierung des Orchesters ein Wechsel der Räume, der so wichtig ist für die in fünfzehn Szenen und drei Akten klar strukturierte Oper (Bühne: Demian Wohler). Der Wechsel also zwischen innen und außen, zwischen privat und öffentlich, zwischen Kaserne und Kneipe. Zum anderen wird die knapp bemessene Spielfläche vom Regisseur gar nicht genutzt. Die Figuren interagieren bei diesem packenden Unterschichtsdrama nicht, sondern werden ausgestellt. Meist stehen sie hinter- oder nebeneinander und starren in den Zuschauerraum. Es gibt szenisch keine Hierarchien und keine Differenzierung. Irgendwie haben alle einen an der Klatsche.
Und waren offensichtlich beim gleichen Schneider. Man trägt bodenlange, glitzernde Abendkleider (Kostüme: Josa Marx), von Wozzeck bis zum Hauptmann (mit aufgeklebten Streifen), von Andres (Junbum Lee) bis zum Doktor (mit Scherenhänden). Die erschütternde Milieustudie nach Georg Büchners Dramenfragment wird in Freiburg zum rätselhaften Kuriositätenkabinett. Aber die Regie greift noch weiter ein. Maries Kleinkind ist ein Teenager (Jannis Zindel) mit Plateauschuhen, der auch mal zu Maries Liebhaber wird und anstelle des Tambourmajors (Joshua Kohl als Ninja Warrior mit Tenorschmelz) seinen Vater zusammenschlägt. Der expressive Epilog nach Wozzecks Tod wird gleich zu Beginn gespielt. Wenn man eine musiktheatralisch genau gearbeitete Vorlage so massiv dekonstruiert, dann sollte man als Regisseur eine neue Geschichte erzählen können.
Es bleibt die Musik und damit auch die hohe sängerische Qualität des Abends. Die dauerschnitzende Titelfigur wird von Robin Adams mit sonorem Bariton und großartiger Diktion gezeichnet. Das Gedrängte, Gehetzte fehlt allerdings. Caroline Melzer gefällt als Marie mit lyrischer Wärme, aber auch expressiver, aber nie forcierter Höhe. Yunus Schahinger ist ein tuntiger Doktor mit geschmeidiger Melodieführung, Roberto Gionfriddo ein durchgeknallter Hauptmann mit Strahlkraft. Am Ende gibt es völlig überraschend doch noch einen berührenden Moment, wenn Wozzeck Marie erstmals in die Augen schaut, sie küsst und gleichzeitig ersticht. Während seine Geliebte und Mutter des gemeinsamen Sohnes stirbt, lehnt er sich an ihre Schulter. Zweimal führt André de Ridder das groß aufspielende Philharmonische Orchester Freiburg auf einem Ton vom vierfachen Piano zum schneidenden Fortefortissimo. Konzentrierter Schmerz!

Weitere Vorstellungen: 29. Dez. 2022, 18./28. Jan., 4./9. Febr. 2023. theater.freiburg.de

Bildquellen

  • (v.l.n.r.) Caroline Melzer, Arjuna Hummert, Robin Adams, André de Ridder und das Philharmonische Orchester Freiburg: Foto: Martin Sigmund